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Vier Bücher sind in einer Bildercollage zu sehen. Ein Buch bildet eine Frau in der Neuzeit ab. Ein Buchcover bildet eine Frau und einen Mann mit mittelalterlicher Kleidung ab. Ein anderes Bild zeigt ebenfalls einen Mann und eine Frau mit Kleidern aus einem vergangenem Jahrhundert. Das vierte Cover ist hellgrün.

Foto: © Eva-Maria Gugg
aus Heft 3/2023 – Serie
Udo Sierck

Die Schönen und die Hässlichen

Im zweiten Teil der Menschen.-Serie Körperkult und Behinderung geht es um den historisch-philosophischen Blick, um die Verknüpfung von Äußerlichkeit und Moral sowie um das Liebenswerte des Anderen.

Vom französischen Schriftsteller Honoré de Balzac stammt die Behauptung, der Vorteil der Hässlichkeit gegenüber der Schönheit sei, dass die Schönheit vergehe, die Hässlichkeit aber bleibe. Was Balzac als schön oder hässlich empfand, bleibt ungewiss. Beide Begriffe besitzen vielerlei Zuschreibungen. Auf der Suche nach Synonymen für „schön“ finden sich Worte wie angenehm, anziehend, bezaubernd, großartig, märchenhaft, zauberhaft, fantastisch, wunderbar oder strahlend. Für „hässlich“ steht scheußlich, anstößig, obszön, hassenswert, monströs, widerlich, entsetzlich, eklig, furchterregend, widerwärtig, gemein, albtraumhaft, unförmig oder entstellt. Die Alltagssprache drückt die Wertschätzung des Schönen aus, während das Hässliche für gewöhnlich Ablehnung signalisiert.

 Philosophische Gedankenspiele

Doch ganz so eindeutig ist dieses Gegenüber nicht. Zunächst sind individuelle Sichtweisen zu berücksichtigen. Der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) ging davon aus, dass eine Sache oder ein Körper nicht an sich schön oder hässlich sei. Diese Einordnung hänge vielmehr vom Blick der Betrachtenden ab, die Bewertungen seien somit subjektiv. 1745 etwa formulierte er diesen Gedanken in seiner Schrift „Über die Regel des Geschmacks“. Hume schrieb: „‚Schönheit sei keine Eigenschaft der Dinge als solcher. Sie existiere nur in dem Geist, der die Dinge betrachte, und jeder Geist nehme eine andere Schönheit wahr. Es sei sogar möglich, dass dort, wo der eine Schönheit sehe, der andere bloß Hässlichkeit erkenne. Jedermann solle daher seinem eigenen Gefühl folgen, ohne damit den Anspruch zu verbinden, auf die Gefühle anderer einwirken zu wollen.‘“ Humes Fazit lautet: „‚Die wahre Schönheit oder die wahre Hässlichkeit zu suchen sei ein ebenso vergebliches Unterfangen wie der Versuch festzustellen, was das wahre Süße und was das wahre Bittere sei.‘“ (Zit. in Eco 2004, 247)

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der Philosoph Karl Rosenkranz (1805–1879) in seiner „Ästhetik des Hässlichen“. Er betont einleitend den untrennbaren Zusammenhang von schön und hässlich. Dass das Hässliche „ein Begriff sei, der als ein relativer nur in Verhältnis zu einem anderen Begriff gefasst werden könne, ist unschwer einzusehen. Dieser andere Begriff ist der des Schönen, denn das Hässliche ist nur, sofern das Schöne ist, das seine positive Voraussetzung ausmacht. Wäre das Schöne nicht, so wäre das Hässliche gar nicht, denn es existiert nur als Negation desselben.“ Für Rosenkranz ist das Schöne „die göttliche, ursprüngliche Idee, und das Hässliche, seine Negation, hat eben als solches ein erst sekundäres Dasein. Es erzeugt sich an und aus dem Schönen. Nicht, als ob das Schöne, indem es das Schöne ist, zugleich hässlich sein könnte,“ sondern nur dann, wenn sich seine Bestimmungen in das Gegenteil verkehrten (Rosenkranz 1853, 7).

Trotz dieser Vorbehalte sind schön und hässlich bei Bewertungen von Körpern üblich.

Über die legendäre Figur des griechischen Fabeldichters Äsop – er lebte wahrscheinlich im 6. Jahrhundert v. Chr. – hieß es, er sei „‚hässlich und zu schwerer Arbeit unbrauchbar. Er hatte einen Hängebauch und einen vorstehenden Kopf, war stumpfnasig, taub und von schmutziger Hautfarbe. Wie ein Krüppel sah er aus, seine Arme waren verschieden lang und er ging krumm. Außerdem schielte er und trug einen Schnurrbart – kurz, schon von weitem wirkte Äsop abstoßend. Zu allen diesen Mängeln kam noch ein viel größerer als seine Hässlichkeit: seine Stummheit; er hatte keine Zähne und konnte sich nur schwer verständlich machen.‘“ (Zit. in Eco 2010, 30) Offenbar wusste Äsop sich aber zu wehren. Nachdem über ihn wegen seiner Hässlichkeit gelacht und beleidigend gescherzt wurde, wandte er sich an die Bürger: „‚Bürger von Samos, was spottet ihr so sehr über mich? Nicht auf mein Äußeres dürft ihr sehen, sondern solltet meine Gedanken prüfen. Denn es ist unsinnig, den Verstand eines Menschen zu tadeln, weil er nicht hübsch aussieht. Viele Hässliche haben doch einen klugen Verstand.‘“ Äsop endet mit einem Vergleich: Hast „‚du ein Weinfass nur von außen gesehen, ihm aber noch keine Probe entnommen, so kannst du über den Inhalt nichts wissen‘“ (zit. in Röder 2021, 139).

Der Schweizer Pfarrer und Schriftsteller Johann Kaspar Lavater (1741–1801) versuchte in seinem Werk „Physiognomische Fragmente“ nachzuweisen, dass die Gesichtszüge und das Äußere eines Menschen dessen Charakter verraten. In Lavaters Pseudowissenschaft zeugt Schönheit von guter und begrüßenswerter, Hässlichkeit dagegen von schlechter und verwerflicher Moral. Der Göttinger Mathematiker und Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) lebte mit einem Buckel, über den er selbst hin und wieder spottete. Die Theorien seines Zeitgenossen Lavater lehnte er ab. Bezug nehmend auf körperliche Besonderheiten schrieb er: „Hüte dich vor den Gezeichneten ist ein Schimpfwort, denen die Gezeichneten von einer gewissen Klasse der Nicht-Gezeichneten in der Welt seit jeher ausgesetzt gewesen sind. Mit größerem Recht könnten also die Gezeichneten sagen: hüte dich vor den Nicht-Gezeichneten. ‚In einem schönen Leibe wohnt eine schöne Seele‘ gehört auch hierher“ (Lichtenberg 1949, Bd. II, 43 ff.). Ohnehin war Lichtenberg der Überzeugung, dass seine körperliche Verfassung ihn zu seiner Beobachtungsgabe und zu Gedankenblitzen verhalf. Deshalb seine Vermutung, vielleicht „kommt es noch dahin, dass man die Menschen verstümmelt wie die Bäume, um desto bessere Früchte des Geistes zu tragen“ (ebd., Bd. I, 47). Das menschliche Antlitz faszinierte ihn, denn selbst „dieselben Züge, die wir hässlich nannten, können schön in unsern Augen werden“ (ebd., 229).

Theorie des Gehens

In Anlehnung an Lavaters Physiognomik beschloss der Schriftsteller Honoré de Balzac (1799–1850), eine Theorie des Gehens zu entwickeln. Das Essay gilt als ein Schlüsseltext seines Hauptwerks „Die menschliche Komödie“. Balzac schrieb über sein Vorhaben, er wolle die Gesetze der idealen Schönheit in Bezug auf die Bewegung erforschen. Für dieses Ziel musterte er flanierende Damen im Korsett, die zeigten, was niemand sehen sollte, und „Trottel“, die so breitbeinig stolzierten, dass die Hunde bequem zwischen ihren Beinen hindurchlaufen konnten. Elegante Spaziergänger stemmten ihre Faust in die Hüfte, sodass sie „mit ihren Ellenbogen überall hängenbleiben. Endlich sind die einen krumm, die anderen schief; diese lassen ihren Kopf von einer zur anderen Seite schaukeln“, jene wiederum „schieben ihren Körper mal nach hinten, mal nach vorn“. So „viele Menschen, so viele Gangarten! Wer sie in aller Vollständigkeit beschreiben wollte, müsste sämtliche Spielarten des Lasters, alle Lächerlichkeiten der Gesellschaft erforschen, die Welt in ihren niedrigsten, mittleren und höchsten Sphären durchstreifen“ (Balzac 2022, 76 f.). Verzweifelt gab Balzac seine Suche nach dem idealschönen Gang auf und verwarf die Theorie als „haarsträubenden Unsinn“ (ebd., 234).

Diese Erkenntnis entspricht den Stimmen, die dem Ungewöhnlichen huldigten: Schon ein Gedicht aus dem Jahr 1686 besang eine – gegenwärtig würde man sagen – behinderte Frau: „‚Jene mit dem verdrehten Fuß hat einen geraden Blick, der in mir eine unsterbliche Flamme entzündet. Und wenn ihre Füße unbeholfen sind, so hat sie doch von Amor die Flügel, und wenn sie sich träg bewegt – ihr Herz ist energisch und wacker. Den Pfeil schleudert sie, bei defektem Fuß, mit dem Arm, und wenn der Weg auch langsam gegangen wird, so ist der Strahl doch schnell, mit dem sie mir im Herzen jenes Feuer entzündet, von dem ich brenne.‘“ (Zit. in Jäger 2014, 31) Bei dem französischen Literaten Émile Villars klang es in einem Lobgesang auf die Pariser Frauen 1866 so: „Sie kann bewundernswert hässlich sein, und eine Behinderung ist für sie zuweilen nur ein Reiz oder eine Faszination mehr. Ich, für meinen Teil, war wie verrückt verliebt in eine Pariserin, die schielte.“ Nirgendwo als in Paris konnte jemand „für eine Hinkende närrisch werden“ (ebd., 52)!

Von der Umkehrung der Wertung des körperlichen Zustands erzählt auch eine Anekdote aus einer Region in den Alpen: „‚Man sollte bei Mängeln oder eigentlich Überfluss, wie Dicke, Buckel, Kropf z. c. so christlich denken, als Keßlers Pfarrer der Alpen, der seine liebe dickköpfige Gemeinde, selbst reichlich versehen, beim Gelächter über einen in die Kirche tretenden Reisenden ohne Kropf liebreich vermahnte, die natürlichen Gebrechen des Nächsten nicht zu verspotten, vielmehr den Himmel für die Zierde zu danken, die diesem armen Fremdling versagt sei.‘“ (Zit. in Gottwald 2009, 154)

Literaturhinweise:

Balzac, H. de (2022): Theorie des Gehens. Hrsg. von A. Mayer. Berlin: Friedenauer Presse.

Eco, U. (2004): Die Geschichte der Schönheit. München/Wien: Hanser.

Eco, U. (2010): Die Geschichte der Hässlichkeit. München: dtv.

Gottwald, C. (2009): Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung. Bielefeld: transcript.

Jäger, L. (2014): Beschädigte Schönheit. Eine Ästhetik des Handicaps. Springe: zu Klampen Verlag.

Lichtenberg, G. C. (1949): Über Physiognomik. Wider die Physiognomen zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis. Gesammelte Werke. Hrsg. von W. Grenzmann. Band I und II. Frankfurt a. M.: Holle Verlag.

Röder, B. (2021): Der Körper des Priesters. Gebrechen im Katholizismus der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag.

Rosenkranz, K. (1853): Ästhetik des Häßlichen. Königsberg: Verlag Gebrüder Bornträger.

Autor: 

Udo Sierck ist Dozent und Publizist. Er tritt seit Jahrzehnten für Emanzipation und Selbstbestimmung behinderter Menschen ein. In seinen Büchern und Artikeln, Vorträgen und Seminaren analysiert er das Normalitätsdenken und versucht, die Denkmuster über „die Behinderten“ aus der Welt zu schaffen.

E-Mail: udosierck@web.de