Drei Tropfen sind zu sehen. Im ersten Tropfen findet sich ein goldener Vogel auf weißem Hintergrund. Der mittlere Tropfen ist gefüllt mit einem blauen Netz und weißem Hintergrund. Der rechte Tropfen ist gefüllt mit einem Sternenhimmel. Der Hintergrund ist himmelblau und weiß.

"... aus einem Guss..." S. Seite 16

Foto: © Eva-Maria Gugg
aus Heft 1/2021 – Denkanstöße
David Fuchs

Wo sich Palliative Care und Behinderung treffen können

Menschen mit Behinderung, so erfahren wir an anderer Stelle in dieser Ausgabe, sind im Zugang zu spezialisierter Palliativversorgung benachteiligt. Sie haben seltener Kontakt zu Palliativpersonal, ihre Symptome werden häufig fehlgedeutet und ihr reguläres Begleit- und Betreuungspersonal hat oft zu wenig Expertise in palliativer Therapie. Ich meine, dass das nicht so sein müsste, und dass Palliative Care mit ihrer Haltung und ihrem grundsätzlichen Zugang zum Menschen in besonderer Weise für Menschen mit Behinderung eignet.

Die „palliative Haltung“1 als Grundprinzip der Palliative Care wird unter anderen als „total care“ verstanden, die den/die Patient*in in seiner/ihrer Komplexität mit physischen, emotionalen und spirituellen Bedürfnissen erfasst und ihr/ihm unter Beachtung des familiären und sozialen Umfelds an einem geeigneten Ort eine multidimensionale Behandlung anbietet, dies alles unter größtmöglicher Wahrnehmung der Autonomie.

Hier zeigt sich ein Zugang, der die Palliative Care von vielen anderen medizinischen Disziplinen unterscheidet. Sie kommt von der Erkrankung her, also von den Symptomen, den Problemen und den Einschränkungen, die eine Krankheit verursacht. Sie denkt von dort aus auf den Menschen hin.

Ihr Blick gilt der Lebensqualität und dem, was kranke Menschen belastet und sie in ihren Vorhaben hemmt, und so trifft sie auf die Erkrankung und tritt in der Lebenserzählung ihrer Patient*innen auf. Es ist dies eine gänzlich andere Perspektive, als sie die meisten anderen medizinischen Disziplinen wahrnehmen, die von der Krankheit, ihren Stadien und ihren molekularen Veränderungen her kommen. Das Nachdenken über und die Behandlung der Krankheit ist notwendigerweise völlig a-persönlich, die Behandlung des Menschen in seiner Erkrankung aber ist gänzlich persönlich.2 Während eine gute kurative Medizin von der Krankheit her kommt und die Erkrankung wesentlich mit einbezieht, ordnet sich die Palliative Care auf diesem Kontinuum ganz bei der Erkrankung ein. In dieser grundsätzlichen Zugangweise, dieser Haltung, ist sie der Pflege letztlich näher als der Medizin.

Medizinisch tritt Behinderung gewöhnlich – letztlich egal in welcher Form – vor allem als Einschränkung von Therapieoptionen auf, die von der Krankheit her gedacht sind. Behinderung erscheint in der Liste der „Vorerkrankungen“, die eine optimale, von der Krankheit gedachte Therapie erschweren oder unmöglich machen können. (Dass dies manchmal nur eine Frage eines zusätzlichen Zeitaufwands und manchmal auch nur eine überhaupt scheinbare Erschwernis wäre, ist ein eigenes Thema.)

In der Palliative Care ist Behinderung an sich aber keine Erschwernis, sondern wird einfach in die Behandlung mit einbezogen. Relevant dafür ist die Behinderung letztlich nur in dem Maß, in dem sie die Lebensqualität einschränkt und die personale Integrität der Betroffenen beschädigt, also Leiden verursacht.3 Die Ursache einer Behinderung tritt in den Hintergrund. Ob eine Behinderung – etwa eine Blindheit – seit der Kindheit, seit einem Schlaganfall vor fünf Jahren oder erst seit ganz kurzer Zeit durch einen Tumor besteht, ist einzig unter den eben erwähnten Gesichtspunkten relevant. Das bedeutet, dass die durch die aktuelle „Haupterkrankung“ ausgelöste Behinderung keine spezifische Behandlungspriorität gegenüber einer jahrzehntelangen Behinderung genießt. Sie ist nicht wichtiger oder relevanter, sondern wird dies erst unter dem Gesichtspunkt der Lebensqualität und des subjektiv erfahrenen Leidens.

Vor diesem Hintergrund wird sichtbar, warum Behinderung aus dem Blickwinkel der Palliative Care keinen entscheidenden Unterschied in ihren Zugangswegen und in ihrer Behandlung macht. Sicher gibt es spezifische Besonderheiten, zum Beispiel in der Kommunikation mit geistig behinderten Menschen, sicher gibt es spezifische ethische Fragen und, nicht zuletzt, Barrieren im Zugang zu Palliative Care, aber die grundsätzliche Haltung der Palliative Care wird davon nicht berührt.

Scheitern, Autonomie und Integrität

Angesichts schwerer, nicht mehr kausal behandelbarer Erkrankungen sieht sich die Palliativmedizin zwangsläufig mit einem Scheitern gewöhnlicher medizinischer Ansprüche konfrontiert. Erkrankungen verlaufen progredient, und letztlich kommt es zum Tod der Betroffenen.

Dieser Verlauf und auch dieses „Scheitern“ berühren in besonderer Weise die Autonomie erkrankter Menschen.

Die Medizin betrachtet – wie die Juristerei – die persönliche Autonomie traditionell als eines der höchsten Ziele ihres Handelns. Gesellschaftlich sind Autonomie und Selbstverwirklichung, eine kämpferische Haltung der Krankheit oder der Behinderung gegenüber hoch angesehen. Henley spricht schon Ende des 19. Jahrhunderts angesichts der drohenden Amputation seines zweiten Beines von den Bildern des „Kapitäns seiner Seele“ und „Meisters seines Schicksals“ und beschwört damit eine kämpferische Haltung der Krankheit gegenüber, die den Diskurs und die aktuelle Einstellung wesentlich prägen.4

In dieser Logik und in diesem Umfeld steht die Entscheidungsfreiheit, die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Behandlungen im Vordergrund. Die Sichtweise, diese Behandlungslogik trifft gerade bei behinderten Menschen (und auch bei anderen gesellschaftlich oft marginalisierten Gruppen, etwa sehr alten Menschen oder Migrant*innen) auf eine Vergangenheit, die es für die Betroffenen oft nötig gemacht hat, ihre Autonomie mit hohem Aufwand – auch gegenüber der Medizin – abzugrenzen und zu verteidigen.

Was wie ein scheinbar perfektes Zusammentreffen aussieht – hier die auf Autonomie besonders bedachte Person, da eine Medizin, die eben diese Autonomie zum höchsten Gut erkoren hat, ist oft alles andere als perfekt – und nicht nur, weil beide Teile diesem Ideal üblicherweise nur zum Teil gerecht werden können.

Einer fortgeschrittenen Erkrankung ist eben das Scheitern dieser Ansprüche notwendigerweise eingeschrieben. Sie bringt zwangsläufig einen Verlust an Autonomie mit sich, und der Tod ist der „ultimative Autonomieverlust“5, mithin die größtmögliche Kränkung für den auf größtmögliche Selbstständigkeit bedachten Menschen.

Care-Arbeit handelt nach einer anderen, und, wie ich meine, gerade für behinderte Menschen nützlicheren Logik: Nicht Autonomie definiert das Gute an Medizin, sondern Aufmerksamkeit und Spezifität. Palliative Care ist in ihrer inneren Logik nicht auf einem Verständnis von Autonomie aufgebaut, dass einer Patientin / einem Patienten suggeriert, er oder sie müsse nur zu bestimmten Zeitpunkten in völliger Autonomie aus den vorhandenen Therapieoptionen wählen. Stattdessen erkennt sie an, dass ihre Arbeit ein Prozess ist, in dem ständig sich verändernde „visköse Variablen“6 eines Lebens in ein jeweils sinnvolles Verhältnis gebracht werden müssen. Wenn auch die Autonomie in Palliative Care respektiert und geachtet wird, definiert sich das Gute in dieser Arbeit nicht allein durch Autonomie. Völlige Autonomie, maximale Wahlmöglichkeiten, resultieren, wenn dieser Gedanke bis zu Ende geführt wird, in Vernachlässigung, im Alleinlassen.

Speziell für behinderte Menschen, denen Autonomie oft aus ihrer Biographie ein überdurchschnittlich hohes Gut ist, kann der krankheitsbedingte Autonomieverlust, verbunden mit einer schlechten Medizin, die „Autonomie“ als Vorwand nimmt, um Betroffene mit ihren Entscheidungen und Problemen alleinzulassen, die sich auf „Anbieten“ und „Beraten“ zurückzieht und damit ihre Patient*innen vernachlässigt, eine gefährliche Mischung werden.

Wenn Menschen plötzlich schwer erkranken oder durch eine chronische Erkrankung ans Lebensende gelangen, wird meist der Wunsch nach Individualität größer, der Wunsch nach dem „eigenen Tod“, von dem schon Rilkes Malte vor mehr als hundert Jahren klagte, er werde bald ebenso selten wie ein eigenes Leben werden7, tritt auf den Plan. Charon8 spricht von einer stilistischen Integrität („stylistic integrity“), die kranke Menschen anstreben – die Krankheit, der Tod sollen zum davor gelebten Leben passen und aus einem Guss („of a piece“) sein.

Palliative Care, in ihren besten Momenten, respektiert ihre Patient*innen, deren Stil und Integrität – den Ton der Lebensgeschichte, das Gewebe ihrer Beziehungen zur Welt. Sie lässt sie aber niemals alleine und bleibt in täglichen kleinen Siegen, aber auch im Scheitern, an der Seite der Menschen, die sich ihr anvertrauen.

Fußnoten

1 Shephard, D.A. Principles and Practice of Palliative Care. Can Med Assoc J. 1977; 116(5): 522–526.

2 Peabody, F.W. The Care of the Patient. JAMA. 1927; 88: 877.

3 Cassell, E. The Nature of Suffering and the Goals of Medicine. Oxford University Press, 1991.

4 Henley, W. Invictus (Gedicht), in: Book of Verses, 1888.

5 Borck, C. Medizinphilosophie zur Einfuhrung. Junius Verlag, 2008.

6 Mol, A. The Logic of Care. Health and the Problem of Patient Choice. Routledge, 2008.

7 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Insel Verlag, 1910.

8 Charon, R., Bruner, J. Narratives of Human Plight: A Conversation with Jerome Bruner. In: Charon, R., Montello M. (Hg.) Stories Matter: The Role of Narrative in Medical Ethics, Routledge, 2002.

Autor

David Fuchs

David Fuchs, geboren 1981 in Linz, ist Autor und Palliativmediziner. Seine Motivation, Arzt zu werden, erwachte, als er als Zivildiener mit der Rettung einen alten Mann ins Krankenhaus begleitete. „Ich hab’ nicht viel getan, nur mit ihm gesprochen und seine Hand gehalten, weil er Angst hatte. Diesen Moment wollte ich öfter haben.“

2018 erschien mit „Bevor wir verschwinden“ bei Haymon sein Debütroman, der mehrfach ausgezeichnet wurde. 2020 folgte sein neuer Roman „Leichte Böden“ (Haymon). Anfang Mai 2021 erscheint mit „Handbuch der Pflanzenkrankheiten“ sein erster Gedichtband. Für Auszüge daraus wurde er 2018 mit dem Feldkircher Lyrikpreis ausgezeichnet.

„Ich habe aber, glaube ich, eines der besten Bücher der Saison gelesen und denke fast, man könnte es den Krisenmanagern empfehlen, die jetzt vielleicht verzweifelt versuchen, uns vor der Katastrophe zu retten und womöglich schon daran sind, uns weiter hineinzustürzen.“

Eva Jancak in „Literaturgeflüster“

David Fuchs’ Gedichtband erscheint in bibliophiler Ausstattung mit Illustrationen von Zhon.

„Wenn ein Autor auf einem solchen Areal Fuß gefasst und mit fast schlafwandlerischer Sicherheit im Geflecht der Sprache seine Orte ausfindig gemacht hat, erregt das Aufmerksamkeit. Ein solcher Autor ist David Fuchs.“

Aus der Jurybegründung zum Feldkircher Lyrikpreis 2018 für Auszüge aus dem Gedichtband