Ein gemaltes Gesicht. Die Silhouetten des Gesichtes wurden mit hellbauer Farbe gemalt. Die Nase und der Mund bestehen nur aus einem Strich. Die Augen nur aus zwei eiförmigen Kreisen, die mit gelber Farbe ausgemalt wurden. Die Ohren sind mit einem cremigen Orangeton ausgemalt. Am Kopf befindet sich eine hellblaue Haube.Die Silhoutten des Körpers sind ebenfalls mit hellbauer Farbe gemalt und die Extremitäten eiförmig gemalt. Der Körper ist violett ausgemalt und die Extremitäten sind schwarz. Die Figur hat gelbe Schuhe an. Der Hintergrund ist bunt gewählt.

Wenn der 26-jährigen Helena Kisling die Worte fehlen, drückt sie ihre Empfindungen mit dem Malpinsel aus. Auf Seite 4 und 9 sind weitere Beispiele zu finden. Wie sie ihre Mutter zu lebensfrohen, inklusiven, gemeinsamen Kunstprojekten wie z.B. „Ich bin da“ anregt, lesen Sie auf Seite 76.

Foto: © Helena Kisling
aus Heft 5/2022 – Gespräch
Mareike Beer, Collin Brand

"Ich versuch, mich irgendwie durchzuschlagen, schon mein Leben lang."

Wie aus einem Interview für eine Dissertation ein Gespräch über eine Kindheit mit multiplen Beeinträchtigungen und über die Bewältigung des Übergangs in die Berufsausbildung geworden ist

Es begann im Kerschensteiner Berufskolleg im nordrhein-westfälischen Bielefeld. Der Schulleiter hatte mir ermöglicht, Interviews mit Auszubildenden zu führen. Es sollte um ihre Berufsorientierung gehen, welche Menschen sie unterstützt haben, vor welchen Hindernissen sie standen und wie sie diese bewältigt haben. Alle Auszubildenden haben einen Förderstatus als Rehabilitand und absolvieren eine theoriereduzierte Berufsausbildung. Ich benötige die Interviews für mein Dissertationsvorhaben in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, es trägt den Arbeitstitel „Berufliche Rehabilitation und inklusive Ausbildung: Gatekeeping-Prozesse am Übergang Schule – Berufsausbildung aus Sicht von Auszubildenden mit Lernbeeinträchtigungen“. Elf Jugendliche und junge Erwachsene hatten sich bereit erklärt, mit mir zu sprechen. Vorgesehen waren zwei Tage, in denen ich die Interviews führen wollte. Das Sample: Auszubildende mit Reha-Status (der ihnen aufgrund einer Lernbeeinträchtigung zuerkannt wurde), die sich in einer von der Bundesagentur für Arbeit geförderten, kooperativen Berufsausbildung befinden.

Tag 1 verläuft wie geplant. Alle Auszubildenden sind da und sie sind gesprächsbereit. An Tag 2 fehlt einer der Interviewpartner: Corona-Quarantäne. Deshalb frage ich den Klassenlehrer, ob nicht spontan jemand anderes einspringen könnte. So lernen Collin Brand und ich uns kennen. Collin ist zum Zeitpunkt des Gesprächs 19 Jahre alt und absolviert eine Ausbildung zum Lagerfachhelfer in einem Kfz-Betrieb, in dem sein Vater Geschäftsführer ist. Er ist mein letzter Interviewpartner an diesem Tag, wobei Interview das falsche Wort ist. Es wird ein Gespräch, und das, was Collin zu erzählen hat, ist hochinteressant.

Sehr schnell merke ich zwei Dinge: a) dass Collin so gar nicht in mein Sample passt und b) dass mir ein junger Mann mit einer Lebensgeschichte gegenübersitzt, die so einzigartig und dennoch in so vielen Details so bezeichnend für das ist, was beim Auf- und Ausbau eines inklusiven Ausbildungs- und Arbeitsmarktes weiterhin fehlt. Das Gespräch dauert mehr als eine Stunde. Es ist fast doppelt so lang wie viele der anderen Interviews.

Zu Hause denke ich intensiv über Forschungsethik nach. Das methodisch korrekte Vorgehen lautet: Die Interviewpartner*innen willigen informiert ein, sie sind über das Ziel des Interviews aufgeklärt worden, die Transkripte werden vollständig anonymisiert und um sämtliche personenbezogene Daten bereinigt, die Audiodateien werden nach Abschluss des Forschungsvorhabens gelöscht. Besonders im Falle Collins stelle ich mir die Frage, ob es eigentlich in Ordnung ist, das Gespräch mit ihm bis zur Unkenntlichkeit zu anonymisieren, nur um die Ergebnisse für meine Dissertation zu nutzen. Ich empfinde dies als unpassend. Ist seine Lebensgeschichte nicht unmittelbar mit ihm als Person verbunden?

Zwei Wochen nach dem Interview schreibe ich ihn deshalb an: dass ich mir unser Gespräch mittlerweile mehrfach angehört habe, dass seine Biografie hochinteressant ist und ich seine Geschichte nicht anonymisieren möchte. Dass seine Geschichte veröffentlicht werden sollte, aber dass ich sie nicht in meiner Dissertation verwenden will. Ich fände das nicht richtig. Ich hätte mir überlegt, sie als Dialog aufzuschreiben, mit richtigem Namen. Was er davon halte?

Collin erklärte sich sofort einverstanden. Im Folgenden wird neben zusammenfassenden Angaben bewusst der wörtlichen Rede Platz eingeräumt und das Gespräch so dargestellt, wie es stattgefunden hat.

Bis zur achten Klasse hatte Collin eine Gesamtschule besucht, danach wurde er zu Hause beschult, da ihm ein Schulbesuch aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht mehr möglich war. Einmal wöchentlich für zwei Stunden kam danach eine Lehrkraft der Gesamtschule zu ihm nach Hause, so schildert er es. Ich möchte wissen, warum der Hausunterricht beantragt wurde.

Interview:

Collin: Aus dem Grund, dass mir ein Ileostoma verlegt wurde. Das ist ein künstlicher Darmausgang. Und weil ich so oder so in der Schule schon gemobbt wurde und gar nicht mehr hinterhergekommen bin, hat man gesagt: So, wenn sich das Stoma … das klebt man mit einer Platte drauf und da mein Bauch so oder so schon vernarbt ist von den vielen OPs, hält die Platte nicht so, wie sie soll, und da kann man nicht mal eben zur Schule fahren und wieder zurück, wenn sie sich löst.

Der Besuch einer sogenannten „Schule für Kranke“, wie es sie in Nordrhein-Westfalen gibt, hätte die Problematik nicht verringert. Formal hat Collin die Gesamtschule nach Klasse 10 mit einem Förderschulabschluss verlassen. Es fand so gut wie keine schulische Berufsorientierung für ihn statt.

Mareike: Jetzt hast du ja gar keine Praktika gemacht. Und irgendwann war dann ja auch klar, dass die Schule endet. Wie ging’s denn dann für dich weiter?

Collin: Ja, das war nicht so toll, weil ich ja gar nicht wusste, was ich machen soll. Ich bin durch einen Bekannten damals in die Lagersache reingerutscht. Hat mir nie wirklich Spaß gemacht. Ich mach auch die Ausbildung nur, weil ich bei meinem Vater bin. Ich würde niemals den Lagerbetrieb wechseln oder sonst was. Würde ich niemals im Leben machen. Weil meine Hoffnung halt ist, dass ich mich hocharbeiten kann. Nur deshalb mache ich das. Autos faszinieren mich. Deshalb möchte ich das machen.

Wie kam man denn dann auf Lagerfachhelfer?

Das kam von meinem Vater. Weil mein Vater und sein Mit-Chef, die haben den Schein, dass ich die Lagerausbildung machen kann. Weil bei mir halt auch der Schulstand sehr schlecht ist, weil ich die ganzen Jahre nicht in der Schule war. Ich hab den Stand von einem Grundschüler. Und dadurch war halt jetzt die Chance ermöglicht, eine Ausbildung zu machen, bei meinem Vater. Und darum hat sich das dann so ergeben, so: Das kannst du jetzt machen, das andere wär alles zu schwer. Ja.

Hattest du denn irgendwie vorher schon Erfahrung in der Tätigkeit auf dem Lager?

Ja, im berufsvorbereitenden Jahr, da war ich im Lager tätig. Das hat mir nicht so gut gefallen. Das ist über einen Freund meiner Mutter gegangen. Dann hab ich da ein Praktikum gemacht, das war erst okay, weil ich einfach froh war, dass ich was hatte. Nach einem halben Jahr, da wurde halt alles immer blöder. Und dann haben die Chefs gesagt: Ja, am Wochenende arbeiten. Aber die wussten auch das mit meiner Infusion. Ich kriege jede Nacht Infusionen zu Hause, meine Mutter macht das. Und, ja, dann wurde das alles zu viel und zu anstrengend. Das war da kein schönes Umfeld. Ist halt ’ne reine … also, ich komm klar in einer reinen Männerbude, aber das ist halt noch mal was anderes, wenn das – und das soll nicht beleidigend klingen –, wenn das eklige Menschen sind, wie sie da reden und wie sie da drauf sind. Das ist einfach nicht so das, was …

Ja. Wie lange begleitet dich deine Erkrankung schon?

Seit meiner Geburt. Also geboren bin ich mit einer chronischen Erkrankung, ich bin mit einem Kurzdarmsyndrom auf die Welt gekommen. Dann kommt halt so was wie colitis ulcerosa dazu, Morbus Crohn, Sämtliches. Hatte schon über 60 Groß-OPs. Und Darmblutungen hatte ich seit dem elften Lebensjahr bis zum sechzehnten Lebensjahr, da war ich jede Woche im Krankenhaus, hab Blut-EKs gekriegt, dann war ich immer stationär in Mannheim, dann in Bielefeld, dann in Osnabrück. Also die ganze Zeit quasi immer nur im Krankenhaus. Und, ja, jetzt ist der Stand, dass ich jede Nacht Infusionen zu Hause kriege. Ich habe einen Katheder, darüber läuft das. Ich kriege darüber Ergänzungsnahrung, da mein Körper keine Nahrung mehr aufnehmen kann. Darum bin ich auch so dünn. Ich wiege gerade mal fünfzig Kilo. Ja, das ist ein bisschen lebensgefährlich. Ist ein bisschen katastrophal, aber ich versuch mich irgendwie durchzuschlagen, schon mein Leben lang. Ich hab jetzt ein bisschen ’ne Depressionsphase wieder. Hat viel damit zu tun, dass mir alles egal ist, so was. Gesundheitlich geht’s momentan wieder richtig runter. Und auch im sozialen Umfeld: Ich habe keine Freunde. Ich habe niemanden, mit dem ich was machen kann. Weil ich früher halt niemanden kennengelernt habe. Früher in der Schule hatte ich nie Freunde, wurde ich gemobbt. Gut, zu dem Zeitpunkt hatte ich auch ADHS, dann war irgendwo auch bei mir der Fehler an sich.

Ja, aber auch für ADHS kann man nichts.

Ja, aber das war bei mir schon extrem, sodass ich auch gestichelt habe, damals. Aber ich bin jetzt, sag ich mal, recht erwachsen geworden, was das angeht.

Ja, und jetzt diese Ausbildung – kann man denn sagen, das ist die einzige Chance, die du hattest?

Ja. Würde ich sagen. Früher war halt – ich habe auch zum Teil diese Ausbildung gemacht, weil: So, ich hab endlich einen Job! Weil ich nach diesem berufsvorbereitenden Jahr ein Jahr arbeitslos war. Ich war den ganzen Tag nur zu Hause. Da war ich froh, dass ich was hatte. Ich seh immer das hier als meine einzige Chance. Weil zum Beispiel Maler und Lackierer kann ich nicht machen.

Und was Kaufmännisches? So auf dem Büro?

Ich hab nichts im Kopf. Da fehlt’s schulisch.

Bevor du jetzt in diese Ausbildung gekommen bist, musstest du denn dann noch zu einer Begutachtung von der Agentur für Arbeit? Wegen deiner Eignung für die Ausbildung?

Nein, aber ich hab das damals schon gemacht, damals hatte ich schlecht abgeschnitten, tatsächlich. Ende der Gesamtschule, kurz vor Anfang der berufsvorbereitenden Maßnahme. War voll schwer. Und dann wurden ärztliche Atteste angefordert, die kamen dann aber irgendwie nicht und dann wurde gesagt: Ja, ich bin schwerbehindert, ich kann alles gar nicht, komplett nicht. Ich wurde dann als komplett doof eingestuft, sag ich mal – körperlich, allgemein, doof, eingeschränkt beurteilt. Ja. Deshalb wurde dann dargestellt: So, er kann nichts. Weil die das dann irgendwie nicht übernommen haben, weil die das falsch überschrieben haben, das Arbeitsamt. Aber auch in der Gesamtschule wurde das schon gesagt: Der kann nichts.

Hast du einen Grad der Behinderung?

80 % Schwerbehinderung. Also ich bin eigentlich schon recht froh, dass ich hier stehe, wo ich stehe. Dass ich nicht mehr arbeitslos bin. Ja. Mal gucken, wo’s hinführt.

Jetzt haben wir über deine Mutter noch gar nicht gesprochen. Arbeitet die auch irgendwas?

Nein. Früher war es so, meine Eltern haben gesagt, entweder geht Papa arbeiten oder Mama. Mama ist zu Hause geblieben und Papa holt das Geld ran und dass sie sich um mich kümmert. Es war auch keine Zeit früher. Sie war immer mit im Krankenhaus. Ich war nach meiner Geburt drei Jahre lang durchgehend im Krankenhaus. Wirklich nur im Krankenhaus, mein ganzes Leben eigentlich. Bis 2017.

Und was war dann 2017? Da ist irgendwas besser geworden?

2016 hatte ich ’ne OP, da habe ich das Stoma bekommen. Da hatte ich eine Lungenembolie oder so was. Da bin ich irgendwie blau angelaufen und habe keine Luft mehr gekriegt und ich habe meine Mutter nur noch schreien gehört. Da habe ich das Stoma bekommen. Kurz vor meinem achtzehnten Lebensjahr habe ich das dann zurückverlegt bekommen. Da haben die Blutungen aufgehört. Aber durch die letzte OP – das war meine letzte OP bis jetzt –, seitdem haben die Blutungen aufgehört, alles gut, aber seitdem habe ich halt jede Nacht Infusionen, weil ich keine Nahrung mehr aufnehme. Also dann musste ich nicht mehr jede Woche ins Krankenhaus für Blutgaben, sondern brauche halt jede Nacht Infusionen zu Hause. Seitdem, seit kurz vor meinem achtzehnten Lebensjahr, war ich auch nicht mehr im Krankenhaus. Seitdem – immer zu Hause. Meine Mutter sticht meinen Port auch an, die ist keine Krankenschwester, nichts.

Wenn deine Mutter das jetzt nicht machen würde, würde dann ein Pflegedienst kommen?

Dann wäre ich tot. Weil ich würde es niemand anderen machen lassen. Niemanden.

Auch nicht einen ausgebildeten Menschen?

Nein. Also, wenn meine Mutter nicht mehr wäre oder so was, wär’s vorbei. Also ich würde auch später, wenn meine Mutter versterben sollte, irgendwann – ich hoff, dass sie noch lange lebt –, dann mach ich das nicht mehr. Ich war damals schon, 2016, an dem Punkt, wo ich sagte: Ich will das nicht mehr. Ich habe auf der Station geheult, ich habe alle vollgeheult, weil ich nicht mehr wollte. Ich hab’s nur noch für meine Mutter getan. Also meine Mutter ist wirklich die Einzige, warum ich noch lebe. Ich hab so schon keinen Bock mehr auf mein Leben. Aber: für sie, nur noch für sie, eigentlich.

Ja. Und wenn jetzt jemand käme, zum Beispiel die Agentur für Arbeit, und du könntest dir was wünschen – bei der Berufsorientierung oder als Hilfe, um in Ausbildung zu kommen –, was wäre das?

Dass ich meinen Kfz-Mechatroniker mache.

Wie könnte die Ausbildung am besten für dich gestaltet werden? Weil, ich sag mal, der Abschluss ist ja nachher für alle gleich. Es müssen ja alle am Ende diese Prüfung machen können.

Das weiß ich gar nicht, tatsächlich. Vielleicht, dass ich ordentlich Zeit habe zum Lernen, dass man mich triezt, quasi, zum Lernen, ja, dass ich’s halt wirklich lerne, dass ich’s reinkriege, auch wenn ich keinen Bock habe, und dass die Ausbildung für mich – klar, einfach ist sie nicht, aber dass sie halt meinem körperlichen Können angepasst wird. Dass man nicht rausgeekelt wird aus’m Betrieb.

Und dass man vielleicht auch einen Betrieb findet, der einen auch braucht und will? Oder einen Beruf zu finden, in dem man gebraucht wird?

Ja, und nicht nur arbeitet, weil: So, die brauchen dich jetzt!, und dann brauchen sie dich nach ’ner Woche nicht mehr. Und damals, als ich dachte: Jetzt habe ich endlich einen Job, da hatte ich immer schon den Gedanken: Ich will den Laden übernehmen. Den Gedanken habe ich schon so lange. Bei meinem Vater einzusteigen. Ja. Und dass man nicht nur arbeitet, um Geld zu verdienen. Also, klar, man muss Geld verdienen, aber heute sind alle nur dem Geld hinterher. Alle wollen nur noch Geld verdienen. Und nicht mehr so: Hey, ich geh gerne arbeiten. Klar, ich möchte auch vieles. Aber ich sag immer: Seid froh, dass ihr gesund seid. Weil wenn ihr Gesundheit nicht habt, Familie nicht habt, dann bringt euch das Geld auch nichts.

 

Kontaktinformationen: 

Universität Osnabrück

Institut für Erziehungswissenschaft

Berufs- und Wirtschaftspädagogik

Katharinenstraße 24

49078 Osnabrück

Tel.:  +49 541 969 4849

E-Mail: mareike.beer@uni-osnabrueck.de

 

Autor:

Collin Brand

E-Mail: c.a.brand2002@gmail.com