Eine Zeichnung in Schwarz-Weiß zeigt einen Erwachsenen und ein Kind, die eng nebeneinander an einem Tisch sitzen. Die Gesichter sind halb verdeckt.

„Literatur kann retten.“ Anna Baar in ihrer Eröffnungsrede zum Bachmannwettbewerb.

Foto: © Anna Baar
aus Heft 5/2022 – Denkanstösse
Anna Baar

Die Wahrheit ist eine Zumutung

Die Eröffnungsrede der Tage der deutschsprachigen Literatur, bei denen alljährlich der Bachmann-Preis vergeben wird, hielt heuer die in Klagenfurt lebende Schriftstellerin Anna Baar. Sie nahm Bezug auf das berühmte Bachmann-Zitat „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ und antwortete mit „Die Wahrheit ist eine Zumutung“. Vor allem, wenn es um das Schweigen über den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen geht. Wir bringen Auszüge aus der Klagenfurter Rede zur Literatur 2022.

[…] Die Mutter ermahnte uns immer zum Leisetreten. Die Vermieterin, sie wohnte unter uns, konnte es nicht leiden, wenn der Parkettboden knarrte. Und wenn sie die Mutter anhielt, um ihr damit zu drohen, uns aus dem Haus zu schmeißen, schickte die uns zum Greißler, Bonbonieren zu kaufen. Damit mussten wir vor der Hausherrin strammstehen und um Vergebung bitten. Ich weiß nicht, was daran wahr ist, aber ich könnte schwören, es so erlebt zu haben, sooft ich bei Ingeborg Bachmann von Kindern in Strümpfen lese, darauf abgerichtet, die Ruhe des Hausherrn zu wahren. […]

Immer sind es die Kinder, die sich zu Tode fürchten, da ihre Worte nicht gelten. Und wenn es nun an mir ist, die Fäden aufzunehmen, sei von jenen berichtet, die man zum Schweigen brachte in der Schule des Anstands. Einmal meldeten welche, der Nachbar, ein hohes Tier, recke den nackten Hintern aus seinem Wohnzimmerfenster. Die Polizei fand heraus, wer sie gerufen hatte. Dann mussten die Übeltäter den angeblich Bloßgestellten um Entschuldigung bitten und zu Protokoll geben, die Sache erfunden zu haben. Die Frage war nicht, was stimmte, sondern wer etwas sagte. Kindsein hieß mitunter, am Baum der Erkenntnis zu rütteln, obwohl man mit jedem Mal, da seine Fünffingerfrüchte auf einen niedergingen, ein Stück weit vom Glauben abfiel.

So lernten die Kleinen das Schummeln und dass im Schweigen der Großen gefährliche Dinge hausen, nach denen man besser nicht fragte. Es hieß, sie verrückten einen, und so, dass man nachts wieder einnässt. Wie der scheue Bub, den sie Bettbrunzer nannten. Hier soll er Felix heißen. […]

Ich spiele nicht mehr in Socken. Was gesagt sein muss, weil wir sonst krepieren an diesem verfluchten Schweigen, das nicht nur mir im Hals steckt, muss laut und deutlich gesagt sein. Sie können sich meinetwegen gleich die Ohren zuhalten, aber das wird Sie nicht retten, sondern mitschuldig machen. In jenem denkwürdigen Sommer trauerten wir Kinder um einen Weggefährten. Felix war, wie es hieß, am goldenen Schuss gestorben. Ich sage: Es war Mord – verübt von Agenten des Heils, das man von früher kannte, und denen, die zu- oder wegsahen, Vertretern der Nachkriegsgesellschaft, deren Entnazifizierung nur zum Rückzug der Gräuel ins Hinterzimmer geführt hat, wo das Virus Verbrechen, wie Ingeborg Bachmann es nannte, sein Zerstörungswerk heimlich fortsetzen konnte.

Man weiß von fünfhundert Opfern der Kärntner Jugendwohlfahrt. Nicht eingerechnet jene, die sie nicht überlebten, vernichtet von Autoritäten, die Schutz und Hilfe versprachen – nicht nur in Landesheimen. Die Heilpädagogikabteilung des Landeskrankenhauses, deren ärztlicher Leiter ein gewisser Franz Wurst1 war: eine Seelenmordanstalt. Das Gemunkel über seine Behandlungsmethoden, als Zuwendungstherapie hat er sie später bezeichnet – sie diene der Überwindung abnormer Berührungsängste –, war ein Tuscheln, Witzeln. Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leut’, hat es immer geheißen, selbst dann nicht, wenn auf der Hand liegt, dass nur das Ansehen sie kleidet.

Wurst wurde Gott genannt von Leuten aus seinem Zirkel. Und Gott hatte Komplizen: Pflegerinnen, die Kinder nachts aus den Betten holten und durch schummrige Gänge zum Hinterausgang brachten. Oder die Unbekannten in schweren Limousinen, die dort warteten, die Um-den-Schlaf-Gebrachten zu Partys mitzunehmen, man hat sie dort vergewaltigt. Oder Ärzte und Schwestern anderer Krankenstationen, die nicht fragten, woher die Quetschungen, Blutergüsse, Striemen und Analrisse stammten, mit denen man die Kinder aus der Hölle Gottes zur Wundversorgung brachte. Oder Polizisten, die die in Panik Getürmten aufgriffen und sofort zurück in die Hölle brachten. Auch in den höchsten Kreisen hatte Gott Helfershelfer. Es gab Hilfegesuche, Briefe an Leopold Wagner, den einstigen Landeshauptmann. Doch statt einer Untersuchung der angezeigten Verbrechen wurden die Verfasser der Verleumdung beschuldigt. Für Franz Wurst gab es Lorbeeren.

Bestimmt hätte er posthum eine Gasse erhalten, wie andere große Ärzte dieser ehrenwerten Stadt, damit hier alles genannt ist, ein für allemal, um es einmal mehr mit Ingeborg Bachmann zu sagen, hätte ihn sein Ziehsohn, auch er eines seiner Opfer, nach dem tödlichen Unfall seiner Ehefrau Hilde nicht als Anstifter zu dem Mord angegeben, den er als Treppensturz tarnte. Und weil, allerdings erst vor Kurzem, andere Bubenstücke Wursts in die Schlagzeilen kamen, erwägt die Stadt Klagenfurt, die Leopold-Wagner-Arena nächstens umzubenennen, was bemerkenswert wäre, zumal hier heute noch Straßen nach Naziverbrechern benannt sind. Doktor Franz Palla zum Beispiel, der mehrere hundert Menschen während der NS-Zeit zwangsweise sterilisierte. Die Gasse seines Namens führt vom Landesspital, an dem er und Franz Wurst ihre Verbrechen verübten, direkt zum Stadttheater […]

Ingeborg Bachmann, die es in der Stadt ihrer Jugend zu einem Forstweg brachte, der aber nicht zum See führt, prägte den Satz von der Wahrheit. Ich nehme den Satz zurück. Er taugt, aus dem großen Ganzen ihrer Gedanken gerissen, nicht einmal mehr als Klospruch. Zu viele, die ihn jetzt zur Verfechtung von vermeintlichem Wissen missbrauchen, das sie zusammensammeln, indem sie nicht nach Wahrheit, sondern Bestätigung ihrer Vermutungen suchen. Liebe Ingeborg Bachmann, wer wollte von Wahrheit reden, wo nicht einmal Worte taugen, sie zu beglaubigen, geschweige denn zu besiegeln? Fakten werden ersetzt durch wohlfeile Alternativen. Wo etwas Zumutung ist, nennt man es heute Lüge. Und um sich dabei moralisch vermeintlich ins Recht zu setzen, nennen sich Nazis Juden und schreien Freiheit und meinen ausschließlich ihre eigene. Sie kapern die guten Worte, das Böse schmackhaft zu machen: Heimat, Heil, jetzt auch Frieden und gerne auch Menschenrechte … Erinnern Sie sich noch, wie sich Jörg Haider selig bei Waffen-SS-Veteranen für ihren Anstand bedankte?

Worte sind Hurenkinder. Sie wechseln gern die Seite. Die Musterschüler des Anstands buhlen um Haltungsnoten. Die Knechtschaft der freien Schreiber ist selbst auferlegt, ein Kokon aus Gestammel, gesponnen aus der Furcht, ins Abseits zu geraten oder ins Gehege verfehdeter Territorialherren, die meinen, den Stoff zu besitzen, aus dem Geschichten gemacht sind. Moral als Machtinstrument ist wirksamer als Gesetze. Wo Mitsprache Sünde ist, wird das Statement zur Tugend. Die Pose ist an die Stelle der Poesie getreten. Man belauert einander – wer gewinnt das Spiel Tu Gutes und rede darüber? Wer schreibt im Krieg noch Gedichte oder trägt zu Markte, was andere erleiden? Man posiert um die Wette, statt den Unerhörten, um die man sich angeblich sorgt, eine Stimme zu geben, und verkauft das als Rücksicht oder Größe im Denken. Ich nenne es Opportunismus, unterlassene Hilfe […]

Man kann Tabus auch so brechen, dass sich das Schweigen erhärtet, indem man keinen Raum lässt für die wahre Empfindung, wie die großen Geschichten von Mördern und Sadisten und, ja, auch Kinderschändern, die nicht zum Ekel zwingen, sondern zu Einsicht und Mitleid. […] Im Sog eines Fortschrittsdenkens, dessen Wahrheitsbegriff sich nach Marktlogik richtet, hat der Geschichtenbetrieb die Sprache zur Ader gelassen. Es scheint heute fast obszön, schreibend über die Ufer des Alltagsgeplappers zu treten. Man schreibt lieber nach der Rede, als nach der Schrift zu reden, um nicht als bemüht zu gelten oder als rückwärtsgerichtet. Dabei gilt der Jugendjargon manchen als Nonplusultra. Die Disziplinierung des Autors, von Gert Jonke hier vor bald zwanzig Jahren besprochen, dient nicht der Literatur, jedenfalls nicht als Dichtung, sondern dem Marktgerechten. So bilden sich vor den Geschäften willkommene Warteschlangen. Aber wenn man dran ist, gibt es wenig zu kaufen zwischen flotten Plots, derber Provokation und Betroffenheitsmilde: Weißbrotliteratur ohne besonderen Nährwert. Sie taugt nicht als Trost noch Einwand gegen den tödlichen Frost neuliberaler Coolness. Nein, sie reproduziert ihn, spricht ihn sogar heilig durch die Beförderung in den Tempel der Künste. Genau wie ein Schulsystem, das Bildung mit konkurrenzfähigem Unternehmertum gleichsetzt und die Poesie aus dem Lehrplan radiert – und mit ihr Fühlen und Denken. Da wird mobil gemacht für den brutalen Erwerbskampf, an dem die Träumer, Zappler oder Andersbegabten mehrheitlich scheitern müssen. Man wird sie Versager nennen, für dumm und verrückt erklären, wie den einen Kleinen, der, um nicht ins Bett zu machen, nach dem Mittagessen nichts mehr zu trinken kriegte, aber eine Tracht Prügel, als die Pflegerin sah, wie er sich eines Nachts über die Klomuschel beugte.

Wir hätten die Kunst, meinte Nietzsche, um nicht zugrunde zu gehen an der schrecklichen Wahrheit. Ich will es anders sagen: Vielleicht bleibt uns nur die Dichtung, zur Wahrheit vorzudringen. Es bräuchte dafür allerdings eine Sprache der Hoffnung. Nennen Sie mich naiv, aber ich glaube stur: Literatur kann retten. Sie gibt den Sprachlosen Worte und schafft Gegenentwürfe zum Normalisierungsterror einer Leistungsgesellschaft, die alles wirtschaftskonform will. Diese Gesellschaft hat Felix auf dem Gewissen und tausende Schicksalsgefährten. Und weil auch ich weder tough war noch wetteifrig oder begabt in angeblich wichtigen Dingen, wäre ich an ihr beinahe selbst gescheitert.

Ich fordere Sie auf, den Kindern Geschichten zu geben, aus denen sie Lehren ziehen und sich aufrichten können, Geschichten, die sie ermutigen, das Leben anders zu denken, Geschichten, die sie warnen, auch vor den Wurstkomplizen, die immer noch unter uns sind. Die Kinder haben das Recht, ihre Namen zu wissen! Immer noch dampft die Jauche unter betretenem Schweigen. Daher, meine Damen und Herren auf den Ehrenplätzen, nutzen Sie Ihren Einfluss, der Jugend in dieser Stadt endlich gerecht zu werden! Niemand soll ruhig schlafen, solange Jahr für Jahr tausende Junge flüchten, weil sie den Mief nicht ertragen. Einstweilen bitte ich, den Kindern auszurichten: Schreibt die Geschichte weiter! Gut in der Schule zu sein, ist nicht der einzige Weg, etwas aus sich zu machen. Die größere Wahrheit aber müsst ihr euch selbst erschließen. Hört nicht auf Besserwisser, die euch Wege weisen, ohne euch zuvor nach euren Zielen zu fragen! Gebt die Schwarzmaler preis, die gegen die Buntheit reden! Seid sicher: An ihrer Sprache werdet ihr die erkennen, die es gut mit euch meinen.

 Buch:

Anna Baar

Die Wahrheit ist eine Zumutung

Klagenfurter Rede zur Literatur 2022

Preis: 12,00 €

32 Seiten, 12 x 18 cm, mit 8 Zeichnungen der Autorin,

ISBN: 978-3-7084-0673-2

In diesem Büchlein finden Sie Anna Baars Klagenfurter Rede. Die Rede schlägt ein neues Kapitel von „Jugend in einer österreichischen Stadt“ auf – als vehementes Plädoyer für eine „Sprache der Hoffnung“ und das Empowern der Kinder – und ist eine Auseinandersetzung mit der Namensgeberin des bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur zu verleihenden Ingeborg-Bachmann-Preises und ihrem viel zitierten Satz „Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar“.

Fußnote

1 Franz Wurst, Kinderarzt mit Schwerpunkt Heilpädagogik, dominierte von den 1950er-Jahren an die Kärntner Jugendwohlfahrt. Er leitete die heilpädagogische Abteilung am Landeskrankenhaus in Klagenfurt, überwachte die Schulärzte, entschied über Kindeswegnahmen, Einweisungen in Erziehungsheime und Sonderschulen. Daneben führte er eine gut gehende Privatpraxis. Er galt als Koryphäe in der österreichischen Heilpädagogik. Er starb 2008.

Autorin:

Anna Baar wurde 1973 in Zagreb / Jugoslawien geboren und lebt in Klagenfurt und Wien. Ihr literarisches Debüt feierte sie mit dem Roman „Die Farbe des Granatapfels“. Mit dem Roman nahm sie 2015 beim Ingeborg-Bachmann-Preis teil und erhielt 2017 für „Als ob sie träumend gingen“ den Theodor-Körner-Preis. Im Jahr 2020 wurde sie mit dem Humbert-Fink-Preis ausgezeichnet. Ihr jüngster Roman „Nil“ wurde im Vorjahr veröffentlicht. Zuletzt erschien der Erzählband „Divân mit Schonbezug“. Heuer erhielt sie die höchste Kulturauszeichnung der Republik Österreich, den Großen Österreichischen Staatspreis