Das Bild zeigt zwei ältere Frauen, die über eine völlig vom Krieg zerstörte Straße gehen. Auch zwei Männer sind zu sehen, die einen Kinderwagen über das zerstörte Gelände hiefen.

Die Fluchtkorridore aus umkämpften Gebieten sind alles andere als sicher.

Foto: © Frank Schultze
aus Heft 2/2022 – Narben des Krieges
Oliver Schulz

Kriegsfolgen für Menschen mit Behinderung

Der Krieg in der Ukraine ist für Menschen mit Einschränkungen eine besonders große Belastung. Wer dort bleibt, muss um seine Sicherheit und Versorgung fürchten. Wem es gelingt zu flüchten, der ist oft traumatisiert.

Oleg Gab ist glücklich, dass er es geschafft hat. In seiner Heimstadt Sumy begannen die Kämpfe bereits kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar. „Es gab zwölf Tage lang keine Korridore für die Evakuierung“, berichtet er per Videokonferenz aus Hamburg. „Es war unmöglich, rein- oder rauszugelangen. Nicht nur für uns, sondern auch für die Menschen aus den umliegenden Ortschaften, die versuchten, sich in der Stadt in Sicherheit zu bringen, weil sie unter Beschuss waren oder weil die Orte von den Russen eingenommen wurden.“ Innerhalb weniger Tage hätten die Lebensmittelgeschäfte und Supermärkte in Sumy keine Waren mehr gehabt, für Nahrung und Medizin mussten die Menschen stundenlang anstehen. „Die russische Armee flog Fliegerangriffe auf die Stadt, viele Menschen kamen ums Leben.“

Am 9. März wurde endlich ein Korridor geöffnet – und am folgenden Nachmittag floh der Mann, der jetzt mit blassem Gesicht in der Sonne im Hamburger Stadtpark auf einer Parkbank sitzt, mit seiner Familie in einem Kleinwagen. Olegs Haare sind kurz geschoren, er trägt ein Hemd unter dem Pulli und spricht sehr geordnet, aber sein Gesichtsausdruck ist bedrückt. „Wir konnten nicht viel mitnehmen“, sagt er, „den Rollstuhl natürlich und ein paar Gepäckstücke für alle. Mein Schwiegersohn fuhr meine Frau, meine beiden erwachsenen Kinder und unseren Hund an die Grenze nach Rumänien.“ Der Hund bellt neben ihm, seine Frau tritt kurz ins Bild und hält das Haustier in die Kamera. „Wir wählten diesen Weg, weil die Straßen nach Polen zu voll waren. An der Grenze drehte mein Schwiegersohn um, er musste zurück, in den Krieg.“

Drei Tage sind sie durch die Ukraine gefahren, erzählt Oleg, sie passierten ausgebrannte russische Panzer und zahlreiche ukrainische Kontrollposten. Einheimische Freiwillige halfen ihnen durchzukommen. Vom rumänischen Cluj reisten sie dann zu viert mit Bahn und Bus über Ungarn nach Deutschland. Hamburg war ein vages Ziel für die Flüchtlingsfamilie, nicht mehr als eine diffuse Option in der Not. Dort habe ihre Tochter eine Bekannte gehabt, die aus der Ukraine stamme, berichtet Oleg. „Es war wenigstens ein möglicher Ort, mit dem wir irgendetwas verbinden konnten.“ Für die Unterstützung, die sie auf dem Weg dorthin erfahren hätten, sei er sehr dankbar, sagt Oleg. „Immer waren auch jenseits unserer Heimat Helfer da, die Ukrainisch oder Russisch sprachen. „Sie halfen mir in den Zug, sie halfen uns, das Gepäck in den Bus zu bekommen.“ Sicher sei es ein Vorteil gewesen, dass sie nicht so viel dabei hatten.

Mit Behinderung besonders schwer

Seit Mitte März sind die vier in einem Hotel in Hamburg, auch hier hat eine Hilfsorganisation sie unterstützt. Mental sei ihre Lage besonders schwierig. Der ungewöhnlich warme Frühling und die Sonne in Deutschlands Norden täten ihnen jetzt gut, sagt Oleg. Aber das Trauma sei noch da. „Wir reagieren auf Geräusche, wir zucken zusammen, wenn jemand an die Tür klopft.“ Zumindest sei seine Familie in Hamburg jetzt sicher. Aber das Leben sei trotz aller Unterstützung nicht leicht. Das Hotel sei nicht behindertengerecht, das Bad könne er nicht benutzen, so Oleg. „Für Flüchtlinge mit Einschränkungen ist diese Situation besonders schwer.“ Die Perspektive für die vierköpfige Familie ist völlig unklar. Alle zwei Tage müssen sie in dem Hotel neu einchecken. Es sei nicht klar, wie es nun weitergehe, wie lange sie dort wohnen könnten, wo sie danach leben könnten, ob sie Arbeit oder Ausbildung fänden. „Wir sind froh über jedes Angebot,“ sagt er. Bei aller Dankbarkeit für die Hilfe auf dem gesamten Weg und nun in Deutschland sehne er sich sehr nach seiner Heimat. Auch, weil seine Wohnung in Sumy ebenerdig und komplett behindertengerecht sei. Obwohl er weiß: „So bald werden wir nicht dorthin zurückkehren können.“ Zumal die Situation in der Ukraine für Menschen mit Einschränkungen derzeit besonders schwierig ist. Er sei mit vielen in Kontakt, sagt Oleg, die zurückgeblieben seien, er sorge sich vor allem um seine Freunde und Bekannten mit Einschränkungen. Denn die sind besonders in Gefahr. „Sie müssen alle in ihren Wohnungen bleiben in Sumy. Bei Luftangriffen können sie nicht in den Luftschutzbunker, denn der ist ja nicht behindertengerecht.“

Alle Dienste eingestellt

Laut dem ukrainischen Netzwerk VGO durchleben Familien mit Angehörigen mit geistigen Einschränkungen gerade eine besonders schwere Zeit. Alle Tageszentren sind geschlossen und gemeindenahe Dienste wurden eingestellt. Viele Freiwillige und Familienmitglieder bewältigten diese Situation mit geradezu aufopferndem Einsatz. Die Familien seien erschöpft, einige von Krankheiten betroffen. Hinzu kommen laut VGO Bombenangriffe, russische Saboteure, Lebensmittelknappheit, Warteschlangen vor Geldautomaten und Apotheken und fehlender Zugang zu medizinischen Leistungen. Für die, die die Ukraine nicht verlassen können, werde es immer schwieriger, Medikamente zu bekommen. VGO-Aktivistin Raisa Kravchenko befürchtete in einer virtuellen Pressekonferenz, die sie für Reporterinnen und Reporter aus aller Welt vor ihrem eigenen Haus abhielt, dass viele der 2,7 Millionen Menschen mit Einschränkungen in der Ukraine sterben oder schwer verwundet würden. Kravchenko selbst ist in der Ukraine geblieben, um sich um ihren 37-jährigen Sohn zu kümmern, der von einer Verhaltensstörung betroffen ist.

Hilfe in traumatischer Situation

Auch Larysa Bayda von der Nationalversammlung der Menschen mit Behinderungen in der Ukraine ist im Land geblieben. Ihr Gespräch mit Menschen., das sie aus Kiew führt, muss sie zwischenzeitlich unterbrechen, um im Luftschutzbunker Zuflucht zu suchen. „Wir selbst bleiben in der Ukraine, weil viele Menschen hier leiden. Wir bekommen viel Hilfe, etwa vom Europäischen Behindertenforum. Aber auch Organisationen aus Japan, der USA, Kanada, Europa helfen uns, sie lassen uns nicht allein. Wenn es um körperliche Einschränkungen geht, sind Menschen in Rollstühlen, mit Sehbehinderungen oder Hörbehinderungen laut der Nationalversammlung der Menschen mit Behinderungen der Ukraine in dem osteuropäischen Land besonders gefährdet. Die Lage sei furchtbar, sagt Larysa Bayda. „Stellen Sie sich vor, was in Menschen mit kognitiven Einschränkungen vorgeht, wenn sie die Einschläge hören! Was macht das mit diesen Menschen?“ Man müsse sich ebenso vorstellen, wie es etwa für eine blinde Person sei, diesen Krieg zu erleben, die Detonationen zu hören, all das könne mentale Probleme nach sich ziehen. Viele Menschen mit Einschränkungen sind nur bedingt transportfähig. „Deshalb müssen sie im Land bleiben,“ sagt sie. „Dabei nehmen die Russen auch Behinderteneinrichtungen unter Beschuss.“ So sollen russische Truppen etwa ein Pflegeheim für Menschen mit Einschränkungen in der Nähe der Stadt Charkiw angegriffen haben, berichteten ukrainische Beamte. 330 Personen lebten demnach in dem Heim, zehn der Bewohner seien auf Rollstühle angewiesen, weitere 50 in ihrer Mobilität eingeschränkt. Die Zahl der Verletzten oder Toten wurde nicht bekannt, nur, dass 63 von ihnen evakuiert wurden. Manche Menschen mit Einschränkungen, die im Land bleiben, bringen sich in diesen fürchterlichen Krieg auch ein. Vor allem, um zu helfen, berichtet Bayda. Sie erzählt von einem gehörlosen Menschen, der täglich mit dem Fahrrad losfahre, um Mitmenschen in Not zu helfen. Das Grauen und die Verzweiflung werden noch einmal deutlicher, wenn sie von Menschen berichtet, die trotz Amputationen zur Waffe greifen, um ihr Land zu verteidigen. Doch am Ende, sagt sie, brauchten die Menschen mit Einschränkungen in der Ukraine nur eines: Frieden.

Humanitäre Krise in der Krise

„Dies ist eine humanitäre Krise innerhalb einer Krise“, sagte jüngst Yannis Vardakastanis, Vorsitzender der Nationalversammlung der Menschen mit Behinderungen der Ukraine, in einer Konferenz. „Die humanitäre Hilfe muss besondere Anstrengungen unternehmen, um Menschen in dieser Situation zu helfen.“ Deshalb hat das Europäische Behindertenforum (EDF) bereits am 24. Februar einen offenen Brief an den Leiter der europäischen Institutionen, die europäischen, russischen und ukrainischen Staatsoberhäupter und die NATO geschrieben. Darin fordert es alle Parteien auf, den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Einschränkungen in der Ukraine zu gewährleisten, indem sie ihren Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere dem Artikel 11 zu Risikosituationen und humanitären Notfällen, sowie der Resolution 2475 des UN-Sicherheitsrates zum Schutz von Menschen mit Einschränkungen in Konflikten nachkämen. In dem Schreiben wird darauf hingewiesen, dass Menschen mit Einschränkungen, die in Einrichtungen leben und bereits von ihrer Gemeinschaft abgeschnitten seien, Gefahr liefen, verlassen und vergessen zu werden. In der Ukraine leben demnach mindestens 82 000 Kinder in Einrichtungen, unzählige weitere Erwachsene mit Einschränkungen seien dauerhaft in Heimen untergebracht. Das EDF fordert „die politische Führung und alle humanitären Akteure, die sich mit dieser Krise befassen“, dazu auf, dafür zu sorgen, dass Menschen mit Einschränkungen vollen Zugang zu allen humanitären Hilfsgütern hätten, vor Gewalt, Missbrauch und Misshandlung geschützt seien, Informationen über Sicherheits- und Hilfsprotokolle, Evakuierungsverfahren und Unterstützung sowie uneingeschränkten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen bekämen. Das Europäische Behindertenforum weist darauf hin, dass besonders Menschen in Einrichtungen oder Waisenhäusern in die Maßnahmen einbezogen werden müssten. Zudem sollten „Umsiedlungs- und Evakuierungsmaßnahmen“ Menschen mit Einschränkungen aber nicht dazu zwingen, in große Einrichtungen zu gehen. Besondere Aufmerksamkeit müsse den am stärksten gefährdeten Personen geschenkt werden, wie Frauen, Kindern, blinden und taubblinden Menschen, Menschen mit psychosozialen und geistigen Einschränkungen und Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf.

Flucht als Herausforderung

Ganz ähnlich schrieb Social Services Europe am 4. März 2022 in einem offenen Brief an EU-Institutionen, um das Bewusstsein für die Bereitstellung von Sozialdiensten für schutzbedürftige Menschen zu schärfen, die von der aktuellen Situation in der Ukraine betroffen sind. Darin ging es auch wesentlich um die Flüchtenden. Die Vertreter von Sozialdienstleistern in ganz Europa fordern in dem Schreiben eine Garantie von der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten, dass der Einsatz von unparteiischen humanitären Helferinnen und Helfern für Menschen mit Einschränkungen sichergestellt werde, wenn diese nicht fliehen könnten oder wollten. Für Flüchtende müsse eine sichere Passage in sicherere Regionen gewährleistet werden. Eindringlich wurde die EU aufgefordert, „allen Menschen, einschließlich der am meisten gefährdeten“, dabei zu helfen, sicher zu fliehen und in den Nachbarländern und in der gesamten Union Schutz zu finden. Denn allein schon die Flucht ist für Menschen mit Einschränkungen eine besondere Herausforderung.

Vielleicht hat Oleg Gab, der es mit seiner Familie nach Hamburg geschafft hat, besonderes Glück gehabt. Sicherlich auch, weil ihn seine Familie unterstützt hat. Die International Disability Alliance bemängelt, es gebe wenig Unterstützung bei der Evakuierung von Menschen mit Einschränkungen aus der Ukraine – und selbst diejenigen, die es schafften, zu Flüchtlingszentren oder -unterkünften innerhalb oder außerhalb des Landes zu gelangen, stünden vor Hindernissen, angefangen bei baulichen Barrieren bis hin zu unzugänglichen Informationen. Valery Sushkevych, der Vorsitzende der Nationalversammlung der Menschen mit Behinderungen der Ukraine, sagte, der Versuch, für Menschen mit Einschränkungen zu fliehen, sei angesichts tagelanger Reisen und riesiger Menschenmengen an Bahnhöfen für viele „entmutigend“ gewesen. Wie viele Menschen mit Einschränkungen bis heute aus der Ukraine fliehen konnten, ist unklar. Ungefähr 5 000 Kinder aus Waisenhäusern sind in Polen angekommen, meldete Inclusion Europe. Es sei wahrscheinlich, dass zehn Prozent von ihnen behindert seien. Für die, die es aus dem Land geschafft haben, ist allein das Überleben ein unschätzbares Gut. „Wir hatten Glück, sagt Oleg Gab: „Wir haben die Möglichkeit bekommen, am Leben zu bleiben.“

 

VGO ist eine Kooperation von 118 ukrainischen Nichtregierungsorganisationen für Menschen mit geistigen Einschränkungen, die etwa 14 000 Familien aus allen Regionen der Ukraine vertreten. Laut VGO gibt es offiziell mehr als 261 000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die eine geistige Einschränkung haben. Insgesamt leben in der Ukraine 2,7 Mio. Menschen mit Behinderung.