Eine gemaltes Bild: Eine abstrakte Person mit rosa Hautfarbe und reißen abstrakten Händen. Der Kopf wird nach hinten geneigt.

Josef Wicker, Engelfrau, 2019, Mischtechnik, 50 × 65 cm Josef Wicker ist Künstler des Living Museum Alb, s. Seite 70.

Foto: © Lisa Laukenmann
aus Heft 2/2021 – Fachthema
Stephan Ellinger, Oliver Hechler

Entwicklungspädagogische Grundlagen erzieherischen Sehens, Denkens und Handelns

Die Pädagogin bzw. der Pädagoge fragt angesichts eines beeinträchtigten Lernprozesses zuallererst: „Kann er nicht, weiß er nicht oder will er nicht?“ In differentialpädagogischer Hinsicht ist diese Überlegung alles andere als trivial, denn nicht selten verweist eine Lernhemmung, die man vermeintlich ohne Weiteres einer Lerndimension zuordnen könnte, auf eine ganz andere Lerndimension, und das aktuelle Lebensalter, in dem die Lernhemmung auftritt, muss auch nicht immer das Lebensalter sein, das für die grundlegende Organisation der Lernhemmung maßgeblich ist.

Der Bezugspunkt aller Interventionen in pädagogischen Handlungsfeldern muss die Erziehung sein – nicht Bildung, nicht Therapie und auch nicht Förderung. Erziehung kann mit Wolfgang Sünkel zunächst grundsätzlich verstanden werden als „die vermittelte Aneignung nicht genetischer Tätigkeitsdispositionen“ (Sünkel 2011, 46). Die Determiniertheit des Menschen durch biologische und genetische Faktoren sowohl mit Blick auf das Denken, Fühlen und Handeln (vgl. Tomasello 2020) als auch mit Blick auf die körperliche Entwicklung und dessen Funktionalität hat im Laufe der Evolution beträchtlich an Einfluss verloren. Die in der Vor- und Frühzeit des Menschen noch dominierenden Reifungsprozesse und die damit zusammenhängende Instinktausstattung haben sich zugunsten von Lern- und Erfahrungsprozessen zurückgebildet, weil sich ein Lernen aus Erfahrungen, das man individuell weitergeben kann, als ein evolutionärer Vorteil herausgestellt hat. Dadurch ist der Mensch nun wiederum grundlegend auf Erfahrungen und auf ein damit verbundenes Lernen angewiesen – er ist abhängig von erzieherischer Zuwendung. So konstituiert sich in anthropologischer Sicht der pädagogische Sachverhalt der Erziehungsbedürftigkeit bei gleichzeitiger enormer Bildsamkeit. Der Mensch ist also auf die Ausbildung von Tätigkeitsdispositionen angewiesen, die sich nicht im Rahmen eines genetisch vorgegebenen Programms entfalten, sondern die er sich erst lernend aneignen muss. An dieser Stelle tritt die Erziehung auf die Bühne, denn um potenziell ein Leben in personaler Selbstbestimmung (Mündigkeit) führen zu können, müssen verschiedene Lernziele erzieherisch erreicht werden. Und es liegt hierbei auf der Hand, dass Lernprozesse – auch die durch Erziehung zu erreichenden – immens störanfällig sind und sich so nicht selten Lernhemmungen einstellen, die es zu überwinden gilt, um wieder ein Lernen aus eigener Kraft zu ermöglichen.

Der Grundgedanke der Entwicklungspädagogik ist nun folgender: In unterschiedlichen Lebensaltern stellen sich ganz unterschiedliche Lernaufgaben in ganz unterschiedlichen Lerndimensionen, die ganz unterschiedliche Lernhilfen erfordern. In differentialpädagogischer Hinsicht ist dieser Sachverhalt alles andere als trivial, denn nicht selten verweist eine Lernhemmung, die man vermeintlich ohne Weiteres einer Lerndimension zuordnen könnte, auf eine ganz andere Lerndimension, und das aktuelle Lebensalter, in dem die Lernhemmung auftritt, muss auch nicht immer das Lebensalter sein, das für die grundlegende Organisation der Lernhemmung maßgeblich ist. Darüber hinaus ist zwar für eine Lernaufgabe zumeist eine Lerndimension primär relevant, doch gilt es immer zu beachten, dass eben auch die Inhalte der anderen Lerndimensionen sekundär für die Bewältigung einer Lernaufgabe aus einer bestimmten Lerndimension dringend erforderlich sind. Hemmungen im Bereich der peripheren Lerndimensionen beeinträchtigen dann die Bewältigung der Lernaufgabe im Bereich der primären Lerndimension, sodass sich dementsprechend auch die Lernhilfen gestalten müssen. Das heißt konkret, eine Lernhemmung z.B. im Bereich der Aneignung mathematischer Kenntnisse muss nicht unbedingt bedeuten, dass hier primär die Lerndimension des Wissens ursächlich im Fokus steht – das bietet sich an, muss aber nicht sein. Die Lernhemmung kann sich ebenso gut auf die Lerndimension des Wollens beziehen. So kann etwa der einschüchternde Unterrichtsstil des Lehrers zu einer ängstlichen Erwartungshaltung beim Schüler und damit zu einer Unmöglichkeit des Lernens führen. Eine Lernhilfe in Form einer standardisierten Förderung bei Dyskalkulie würde so ins Leere laufen. Andererseits könnten auch vorschulische Fertigkeiten nicht in einem Maß erworben worden sein, deren teilweises oder gänzliches Fehlen jetzt in der Schulzeit die Aneignung mathematischer Zusammenhänge erschweren. Auch hier wäre das erwähnte Dyskalkulie-Training nicht angezeigt. Um die Komplexität noch etwas zu erhöhen, muss die pädagogische Lerndiagnostik unter Umständen noch in den Kontext von erschwerenden und besonderen Bedingungen gestellt werden. Das heißt, das an sich schon mehrfach determinierte Lerngeschehen – und damit auch der Versuch, dieses verstehend zu fassen – wird nicht selten durch personale, sozio-kulturelle, sozio-emotionale, sozio-ökonomische und/oder sozio-physio-emotionale Beeinträchtigungen erschwert (Ellinger 2019; Hechler 2019a). Vor dem Hintergrund der Komplexität der pädagogischen Aufgabe kann ersichtlich werden, warum pädagogisches Verstehen als zentral aufgefasst werden muss. Eine Standardisierung verbietet sich hier, weil sie den Gegenstand der pädagogischen Bemühungen nur unter den Bedingungen der Trivialisierung zu fassen vermag und ihn damit aber kategorial verfehlt.

Form der Erziehung

Was Friedrich Schleiermacher in seinen Grundzügen zur Erziehungskunst 1826 noch behaupten konnte: „Was man im allgemeinen unter Erziehung versteht, ist als bekannt vorauszusetzen“ (Schleiermacher 1983, 7), gilt heute so ohne Weiteres nicht mehr. Erziehung als zentraler Gegenstand einer Pädagogik, die sich zu den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zählt, lässt sich nicht so einfach bestimmen und fixieren wie die Gegenstände der Naturwissenschaften. Ihre Faktizität ist zwar evident, doch sie zeigt sich beim Versuch des direkten Zugriffs als immens flüchtig. Erziehung gibt sich im Grunde nur durch ihre spezifische Form zu erkennen, weil sie als soziale Handlung vieles von dem teilt, was auch andere soziale Handlungen auszeichnet. Jenseits aller Bestimmungsversuche der Erziehung über anthropologische Begründungsfiguren, Definitionen bis hin zu metaphorischen Zugängen tritt Erziehung relativ belastbar und konstant durch ihre eigentümliche Form in Erscheinung. Das, was Erziehung formal ausmacht, ist ihre triadische Struktur, die besser bekannt ist als „Didaktisches Dreieck“. Wenn also von Erziehung gesprochen wird, dann hat man es formal mit einem triadischen Gebilde zu tun, das aus den Teilen „Erzieher“, „Zögling“ und „Thema“ besteht. In diesem Sinne kann auch nur dann von Erziehung gesprochen werden, wenn diese drei Teile kopräsent gegeben sind und strukturell aufeinander verweisen.

Das didaktische Dreieck geht auf Johann Friedrich Herbart zurück, der in seiner Replik auf Jachmanns Rezension der „Allgemeinen Pädagogik“ aus dem Jahr 1814 feststellt: „Und da die Ausbreitung der Kraft dadurch geschieht, dass man den Zöglingen eine Menge von Gegenständen darbietet, die ihn reizen und in Bewegung setzen, so muß, um die Aufgabe zu erfüllen, etwas Drittes zwischen Erzieher und Zögling in die Mitte gestellt werden als ein solches, womit dieser von jenem beschäftigt wird. So etwas heißt unterrichten (kursiv im Original). Das dritte ist der Gegenstand, worin (kursiv im Original) unterrichtet wird. Der hierher gehörige Teil der Erziehungslehre ist die Didaktik“ (Herbart 1965, 262). Diesem Verständnis nach kann nur dann begründet von Erziehung gesprochen werden, wenn mindestens zwei Personen über Themen miteinander in Kontakt treten, wobei der eine Themen vermittelt und der andere sich die Themen lernend aneignet bzw. aneignen soll. Das ist das, was mindestens gegeben sein muss, um überhaupt in einem ersten Schritt von Erziehung sprechen zu können. Hier wird freilich noch keine Aussage über „gute“ und „schlechte“ Erziehung oder über den Sinn und Unsinn der dargebotenen Themen getroffen, sondern zunächst nur Erziehung strukturformal bestimmt.

Operationen der Erziehung

Das didaktische Dreieck stellt also in strukturformaler Hinsicht einen Rahmen bereit, der es erlaubt zu bestimmen, wann überhaupt von Erziehung gesprochen werden kann und wann eben nicht. Allerdings ist die triadische Struktur der Erziehung eine notwendige, für die Erziehung aber keinesfalls hinreichende Voraussetzung. Verweist die Struktur auf die Statik der Erziehung, so muss nun noch die Dynamik der Erziehung in den Blick genommen werden – das heißt, es gilt, den Rahmen, den das didaktische Dreieck konstituiert, gewissermaßen dynamisch auszukleiden.

Erziehung entsteht in der Koordination von zwei ganz grundsätzlich zu unterscheidenden Operationen, die sowohl aufeinander Bezug nehmen als auch durch den Bezug auf ein gemeinsames Thema zusammengehalten werden. Immer, wenn erzogen wird, finden wir nicht nur wenigstens zwei Akteure, deren Aufmerksamkeit sich auf ein gemeinsames Thema richtet, sondern immer auch spezifische Handlungsformen. Auf Seiten des Erziehers lässt sich immer eine Zeigegeste erkennen, die versucht, zunächst die Aufmerksamkeit des Zöglings zu gewinnen, um diese dann auf das Thema, das es zu zeigen gilt, zu lenken. Die Zeigeoperation und ihre theoretische und interventionspraktische Einbindung in die pädagogische Disziplin und Profession sind gemeinsam als die didaktische Seite der Erziehung aufzufassen. Auf der Seite des Zöglings wiederum verorten wir die Bemühungen um das Lernen. Denn die zeigenden Bemühungen des Erziehers haben grundsätzlich das Lernen des Zöglings im Blick. Immer geht es darum, ein Thema so zu zeigen, dass es sich der Zögling auch lernend aneignen kann. Ist das Zeigen als zentrale Signatur der „Erzieher von Beruf“ (Prange & Strobel-Eisele 2006, 44) der didaktischen Seite der Erziehung zuzuordnen, so verweist das Lernen des Zöglings auf die anthropologische Seite der Erziehung. Aus dieser Bestimmung von Erziehung folgen zwei Sachverhalte. Erstens lernt der Mensch auch ohne Erziehung, und zweitens kann es keine Erziehung geben, die sich nicht auf das über Themen vermittelte Lernen bezieht. Wenn wir erziehen, wollen wir immer das Lernen des Gegenübers erreichen, und immer haben wir Themen im Sinn, die von uns zeigend vermittelt werden und die sich der Zögling lernend aneignen soll.

Soweit erst einmal der Überblick über die Dynamik der pädagogischen Operationen, die sich im Feld der Erziehung entfaltet. Blicken wir aber nun zunächst etwas genauer auf die didaktische Seite der Erziehung

Das Zeigen

Das Zeigen ist die zentrale Signatur des handelnden Erziehers. Thomas Fuhr, Professor für Erwachsenenbildung in Freiburg, fasst die Forschungsergebnisse der Operativen Pädagogik, deren Gegenstand die phänomenologische Analyse der Operationen des Erziehens ist, prägnant zusammen und stellt fest: „(…) wenn pädagogisch gehandelt wird, wird immer etwas gezeigt, und wenn nichts gezeigt wird, so wird nicht pädagogisch gehandelt“ (Fuhr 1999, 110). Das Zeigen als die zentrale Signatur der Erziehung verweist direkt auf den Ursprung erzieherischen Handelns. Zeigen und Erziehung sind untrennbar miteinander verbunden. Und die Quellen, die auf diese Grundgebärde des Erziehens Bezug nehmen, reichen bis in die Antike. Das Zeigen als das Sichtbarmachen des Unsichtbaren – also als die Darstellung und das zum Erscheinen-Bringen des nicht direkt Gegebenen – kann auf den Vorsokratiker Anaxagoras (499–428 v. Chr.) zurückgeführt werden (Mansfeld 2007).

Anaxagoras soll dem Vernehmen nach bereits Diagramme für die Darstellung von Gedanken benutzt haben. Ebenso kann ein Beleg für die Zeigestruktur des Erziehens in Platons Menon (2007) gefunden werden. Dort bedient sich Sokrates einer Zeichnung im Sand, um Menon zu zeigen, wie man ein Quadrat verdoppelt. Beim Erziehen geht es – damals wie heute – darum, Sachverhalte und Situationen oder ganz allgemein Themen so zur Darstellung zu bringen, dass sich der Zögling diese potenziell auch anzueignen vermag.

Nach Klaus Prange und Gabriele Strobel-Eisele (2006) lässt sich die Zeigegeste in pädagogischer Hinsicht in vier elementare Formen unterteilen:

Das repräsentative Zeigen zielt auf die Darstellung. Pädagogisches Handeln im repräsentativen Modus ist die „Darstellung der Welt, ein Zeigen und Sehenlassen des Unsichtbaren“ (ebd., 61). Repräsentatives Zeigen ist im Kern unterrichtendes Zeigen. Durch Unterrichtung werden Sachverhalte und Situationen, die außerhalb der erzieherischen Situation angesiedelt sind und damit überwiegend nicht anschaulich vor Augen geführt werden können, in der erzieherischen Situation zur Darstellung gebracht. Das macht die Kunst des repräsentativen Zeigens aus. Hat man beim ostensiven Zeigen immer das Thema vor Augen, um das es geht, bezieht sich das repräsentative Zeigen auf Themen, die eben nicht so ohne Weiteres vergegenständlicht werden können und trotzdem für eine funktionierende Lebenspraxis in personaler Selbstbestimmung von Relevanz sind.

Das direktive Zeigen kann als Aufforderung zur Selbsttätigkeit begriffen werden. So paradox es klingen mag, doch Selbstbestimmung, Freiheit von inneren und äußeren Zwängen und Mündigkeit als zentrale Ziele der Erziehung sind zunächst in einem hohen Maße auf Fremdbestimmung angewiesen. Erst durch die Aufforderung kann der Mensch etwas tun oder es auch sein lassen – er muss aber Stellung beziehen. Das auffordernde Zeigen, will es die Motive, Absichten und Haltungen der Menschen erreichen, muss sich immer am Lernstand des Menschen orientieren und es muss berücksichtigen, was bereits an Fertigkeiten und Kenntnissen, die ostensiv und repräsentativ gezeigt wurden, vorhanden ist. Das auffordernde Zeigen ist letztendlich eine relativ „schwache“ Form erzieherischen Handelns, weil es sich eher durch einen appellativen Charakter auszeichnet. Lehrer und Erzieher müssen „ertragen“, dass nicht klar ist, was aus der Aufforderung wird. Damit ist aber auch die Stärke der Aufforderung benannt – immer geht es um die Ansprache der selbstbestimmten Anteile der Person, und das hat positive Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen.

Das reaktive Zeigen schließlich fasst konzeptuell die Rückmeldung. Rückmeldung als pädagogische Form thematisiert das Lernen selbst und verweist darauf, was aus Sicht des Erziehers aus dem übenden, darstellenden oder auffordernden Zeigen geworden ist oder gemacht wurde. Bei der Rückmeldung ist besonderer Takt geboten, da die Gefahr besteht, dass sich das reaktive Zeigen direkt an die Person des Zöglings richtet. Folgen einer solchen Fehlform des reaktiven Zeigens können Kränkungen und Demütigungen sein (Hechler 2019b). Zu berücksichtigen gilt bei allen Formen erzieherischen Handelns, dass es immer versucht, die Zustände von Personen durch Lernen zu verändern. Es geht nie darum, direkt den Menschen zu manipulieren, sondern ein Lernen zu erreichen, das der Mensch für sich selbst im Sinne der Entwicklung von Mündigkeit nutzen kann.

Das ostensive Zeigen konzeptualisiert das übende Zeigen. „Die Übung stellt eine pädagogische Handlungsform dar, in der auf die elementaren kindlichen Lernbewegungen immer wieder mit unterstützenden, auffordernden Eingriffen von Seiten des Erziehers geantwortet wird“ (Prange & Strobel-Eisele 2006, 53). Ziel des übenden Zeigens ist das Hervorbringen von Gewohnheiten und lebenspraktischen Routinen, die dem Menschen helfen, sein Leben teilweise gewissermaßen automatisiert zu leben. Gewohnheiten und Routinen erleichtern in diesem Sinne das Leben, weil nicht immer alles jeden Tag neu durchdacht und eingeübt werden muss. Gleichwohl zeigen sich die dadurch hervorgebrachten Gewohnheiten und Routinen durch eine Offenheit für ihre Überwindung durch neue und alternative Routinen und Ansichten aus. Ostensiv gezeigt wird also, wenn man als Erzieher etwas vormacht, mitmacht und mit Blick auf das anschaulich Gezeigte zur übenden Aneignung anhält.

Dem handelnden Erzieher stehen also zunächst vier elementare Grundformen des Zeigens zur Verfügung. Er kann etwas vormachen oder mitmachen und dann die Aneignung anleiten, er kann einen Sachverhalt oder eine Situation zur Darstellung bringen, er kann zum Tätigwerden oder zur Unterlassung auffordern oder er kann eine Rückmeldung über das Ergebnis der Aneignungsbemühungen geben. Hat man als Erzieher Kenntnis über diese Möglichkeiten, dann ist schon viel gewonnen. Allerdings muss angemerkt werden, dass sich die skizzierten elementaren Zeigeformen in der Praxis des Erziehens nie in solcher Reinform zeigen beziehungsweise zur Anwendung gebracht werden können. Vielmehr ist die analytische Trennung dem Versuch der systematischen Darstellung geschuldet. Die Formen pädagogischen Handelns, die wir als Erziehungsmittel kennen, sind überwiegend komplexe Formen, das heißt, sie zeichnen sich durch eine Kopräsenz unterschiedlicher elementarer Formen aus, wobei sicherlich der Fokus auf eine bestimmte elementare Form gelegt wird, weil ja der Lernbedarf des Zöglings vorgibt, ob nun mehr geübt, Wissen vermittelt oder an die Einsicht appelliert werden sollte. Erziehungsmittel sind komplexe Formen pädagogischen Handelns, die sich dadurch zu erkennen geben, dass Sachverhalte und/oder Situationen aus dem Selbst-Welt-Bezug und dem Selbstbezug in den Dienst des Lernens genommen werden. Ausgangspunkt der pädagogischen Bemühungen ist dabei immer der Lernbedarf des Lernenden. So können beispielsweise im Spiel Fertigkeiten geübt, Kenntnisse erworben oder auch Willenseinstellungen ausgebildet und modifiziert werden (Einsiedler 1999). Auch das erzieherisch wirksame Gespräch kann es sowohl auf einen Verhaltenswandel, auf eine Umstimmung der Gefühlslage als auch auf eine Änderung der Gedanken absehen (Bang 1971). Ähnlich verhält es sich mit dem Arrangement, das nicht selten in den Dienst sozialpädagogisch inspirierter Zeigebemühungen genommen wird. Zwar liegt hier der Fokus wahrscheinlich mehr auf der Lerndimension des Wollens, doch kommen sicherlich auch Fertigkeiten und Kenntnisse zum Tragen. Relativ eindeutig lässt sich der Unterricht als die pädagogische Handlungsform bestimmen, die es darauf abgesehen hat, Kenntnisse zu vermitteln (Glöckel 1996; Prange 1986). Aber auch hier bedient sich der Unterricht häufig einer weiteren Form pädagogischen Handelns, die es nicht nur auf neue Kenntnisse abgesehen hat, sondern auch das Lernen von Ausdauer und Geduld (Willenseinstellungen) und motorischen Fertigkeiten (Können) im Blick hat – gemeint ist hier das erzieherisch bedeutsame Mittel der Arbeit (Weinstock 1954).

Das Lernen

Das Zeigen ist also die zentrale Geste der Erziehung und die grundlegende Kompetenz des berufsmäßigen Erziehers. In medizinischen Zusammenhängen gehört der kunstfertige Eingriff zu den Erkennungsmerkmalen eines „guten“ Arztes. Er weiß nicht nur viel über den menschlichen Körper, sondern kann auch entsprechend eingreifen. Dies geschieht durch eine Operation, eine chiropraktische, medikamentöse oder psychotherapeutische Behandlung oder im Rahmen eines ärztlichen Gesprächs. In ähnlicher Weise gibt sich der „gute“ Erzieher dadurch zu erkennen, dass er neben umfassenden pädagogischen Wissensbeständen in der Lage ist, die lebensalter- und lerndimensionbezogenen Themen, die für die Ausbildung einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Lebenspraxis nötig sind, angemessen zu vermitteln, sodass eine potenzielle Aneignung durch den Zögling möglich wird.

Seit den griechischen Sophisten in der Antike ist man sich unter Pädagogen und Philosophen einig, dass für die Befähigung zu einer potenziell „glückenden“ und „guten“ Lebensführung mindestens drei Dimensionen ausgebildet und aufeinander bezogen sein müssen. Immer geht es um den Erwerb von Fertigkeiten, von Kenntnissen und von Einstellungen und Haltungen, kurz: um die Lerndimensionen und Lerninhalte des Könnens, des Wissens und des Wollens. Es ist diese „Dreifaltigkeit des Lernens“, wie Prange (2005) sagt, die von Otto Willmann (1909) als pädagogischer Ternar bezeichnet wird und die sich durch die Geschichte der Pädagogik und der Erziehung mit Variation bis heute durchzieht. Sprach man seit Platons Menon (2007) in der griechischen Antike von physis (Natur), mathesis (Belehrung) und áskesis (Übung), auf die sich Aristoteles (2006) mit der Dreiheit physis (Natur), ethos (Gewohnheit) und logos (Wissen) bezogen hat, so benennt Rousseau (1998) die Natur, den Menschen und die Dinge als die maßgeblichen drei Erzieher, und Pestalozzi (1954) verweist auf das Lernen mit Kopf, Herz und Hand. Schließlich ist auch noch einmal Sünkel (2011) zu nennen, der von Kenntnissen, Fertigkeiten und Willenseinstellungen spricht, die sich der Mensch lernend aneignen muss, um sein Leben in personaler Selbstbestimmung zu führen. Der Blick auf die Theoriegeschichte des sogenannten pädagogischen Ternars ermöglicht im Grunde die Konzeptualisierung des pädagogischen Aufbaus der Person: Können, Wissen und Wollen verweisen auf Lerndimensionen, deren Inhalte für die Gestaltung einer autonomen Lebenspraxis von Belang sind.

Diesem Verständnis folgend, sollen nun die grundlegenden inhaltlichen Bestimmungsmerkmale der Lerndimensionen kurz umrissen werden. Die Beschreibung hat zunächst nur die Absicht, die spezifische Charakteristik der Lerndimensionen zu verdeutlichen, um diese so voneinander abgrenzbar zu machen.

Bei der Lerndimension Können geht es um verkörperlichte Handlungsfähigkeit, letztendlich um Fertigkeiten, die dem Menschen helfen, seine Lebenspraxis routinehaft zu gestalten. Diese Fertigkeiten bauen überwiegend auf zwei Funktionsbereichen auf. Diese sind zum einen die Motorik und die motorische Entwicklung und zum anderen die Wahrnehmung und die in diesem Zusammenhang stehende perzeptuelle Entwicklung.

Der Funktionsbereich der Motorik umfasst einerseits die Alltagsmotorik, also das Bewegungsrepertoire, das für die Bewältigung des täglichen Lebens von Bedeutung ist, die Berufs- bzw. Arbeitsmotorik, gemeint ist hier eine spezielle Motorik, die sich aus den Anforderungen einer spezifischen Tätigkeit ergibt. Andererseits ist die Ausdrucksmotorik von relevant, die auf die Ästhetik und Stilisierung der Persönlichkeit durch Bewegung abhebt. Allgemeine, spezielle und auch Ausdrucksmotorik bedürfen der Ausbildung von sowohl groß- und kleinmotorischen Fertigkeiten – also Fertigkeiten, die groß- und kleinräumige Bewegungsabläufe ermöglichen – als auch von loko- und sprechmotorischen Fertigkeiten, die den ortsverändernden Bewegungs- und den Sprechapparat zum Gegenstand haben. Die Entwicklung der motorischen Fertigkeiten verläuft entsprechend der jeweiligen Bereiche immer vom grobmotorischen zum feinmotorischen Leistungsniveau. Pädagogisch gesprochen: vom Noch-nicht-Können zum Können.

Der Funktionsbereich der Wahrnehmung als weitere Grundlage verkörperlichter Handlungsfähigkeit umfasst zunächst ganz allgemein das, was mit den fünf Sinnen gemeint ist. Der Mensch nimmt wahr, indem er sieht, hört, tastet, riecht und schmeckt. Die ausgebildeten Fertigkeiten im Bereich des Sehens (visuelle Wahrnehmung), des Hörens (auditive Wahrnehmung), des Tastens (taktile Wahrnehmung), des Riechens (olfaktorische Wahrnehmung) und des Schmeckens (gustatorische Wahrnehmung) stehen dem Menschen im alltagspraktischen Lebensvollzug immer nur in einem spezifischen Mischungsverhältnis zur Verfügung. Beim Essen beispielsweise geht das Sehen mit dem Riechen und Schmecken einher, oder beim Liebesakt das Fühlen, Sehen, Hören und Schmecken. Diese fünf Sinne lassen sich zum einen ihrem Charakter nach in Nah- und Fernsinne unterteilen. So fallen das Sehen und das Hören unter die Kategorie „Fernsinne“, die anderen dann, also Schmecken, Tasten und Riechen, unter die Kategorie „Nahsinne“. Zum anderen werden sie ergänzt durch vier weitere Sinne, die sich auf die Körperwahrnehmung (Propriozeption), die Wahrnehmung der Temperatur (Thermorezeption) und des Gleichgewichts (vestibulärer Sinn) und auf die Wahrnehmung von Schmerz (Nozizeption) beziehen. Für alle Sinne gilt, dass sie zwar als biologische Reaktionsbereitschaft zur Verfügung stehen, in ihrer Funktionalität aber durch Verwendung erst ausgebildet werden müssen.

Mit Bezug auf die Lerndimension Wissen gilt seit Platon, dass Wissen als wahre und gerechtfertigte Meinung aufzufassen ist: Wissen „ist mit Erklärung verbundene richtige Vorstellung“ (Platon 2007, 237). Das heißt: Wissen hebt auf Kenntnisse ab, die sich einerseits durch einen hohen Grad an Gewissheit und damit durch Verbindlichkeit und Gültigkeit auszeichnen und die andererseits durch die Verfügbarkeit von Tatbestands- und Sachverhaltswissen in Erscheinung treten. Können die Fertigkeiten der Lerndimension des Könnens weitestgehend als ein „knowing how“ bezeichnet werden, so zielen die Kenntnisse der Lerndimension des Wissens auf ein „knowing what“. Gemeint sind hier Kenntnisse, die in der Lage sind, die Welt zu erklären und damit auch verstehbar und handhabbar zu machen. Wissen zeichnet sich in diesem Verständnis in hohem Maße durch Reflexivität aus – eine Reflexivität, die sowohl in der Lage ist, Wissensbestände abrufbar zu gestalten, als auch diese zum Gegenstand des eigenen (Nach- und auch Vor-)Denkens zu machen. Wissen ist damit eng mit metakognitiven Prozessen verbunden und ermöglicht so, dass die zukünftige Lebenspraxis nicht allzu ungewiss bleiben muss. Es sind nämlich gerade die reflexiven Wissensbestände, die in der Lage sind, Gewissheiten zu formulieren, auf die sich dann moderne Errungenschaften bei ihrer Entwicklung stützen konnten und können. So wäre beispielsweise ohne das Wissen um Thermo- bzw. Aerodynamik, Statik, physikalische Mechanik und Informationstechnologien ein Flug in den Urlaub ebenso unmöglich wie ein Flug zum Mond, der Bau von Hochhäusern und Brücken oder das Surfen im Internet. Wissen zeichnet sich durch eine „Entweder-Oder-Logik“ aus. Sind die Gesetze der Physik in der Lage, Rahmenbedingungen herzustellen, die einen tonnenschweren Gegenstand in der Luft oder über Wasser halten können? Ja oder Nein? Wir überlassen es üblicherweise nicht dem Zufall, oder dem „Sowohl-als-auch-Prinzip“, wenn wir in ein Flugzeug steigen oder eine Kreuzfahrt unternehmen. Zwar darf nicht unterschlagen werden, dass viele Gesetzmäßigkeiten, die heute als gültige Wissensbestände imponieren, durch Ausprobieren und durch die Tat entdeckt und in Ansätzen formuliert werden konnten. Doch es waren dann zumeist vorauslaufende Laborbedingungen, die den (technischen) Fortschritt ermöglicht haben.

Die Lerndimension Wollen schließlich repräsentiert Haltungen und Einstellungen, die der Mensch ausbilden muss, um sein Wissen und Können sinn- und bedeutungsvoll mit Hinblick auf sich selbst, die Anderen und die Welt aktualisieren zu können. Die Entwicklung spezifischer Haltungen und Einstellungen zielt letztendlich auf die Herausbildung einer individuellen Lebensform. Zum einen trägt diese individuelle Lebensform den Menschen in seiner Existenz und gibt ihm – mit Paul Moor (1960) gesprochen – inneren Halt. Zum anderen ermöglicht sie die Stilisierung der eigenen Person unter Einbezug der jeweiligen Fertigkeiten und Kenntnisse. Im Grunde entsteht durch das Hinzutreten des Wollens etwas Drittes, das nicht einfach im Sinne einer Kompetenz den anderen beiden (Fertigkeiten und Kenntnisse) additiv hinzugefügt wird, sondern über die Summe der einzelnen Teile hinausreicht und erst so die Herausbildung einer Gesamtpersönlichkeit ermöglicht. Obwohl das Wollen als Element des pädagogischen Aufbaus der Person mit den psychologischen Persönlichkeitskonzepten hinsichtlich des Merkmals der Konsistenz übereinstimmt, geht das Wollen über die Beschreibung von Merkmalen hinaus. Der hier anklingende Tatbestand bezieht sich auf die Notwendigkeit einer Erziehung und Bildung der Seele und ist für die Pädagogik im Grunde auch nichts Neues (vgl. Niemeyer 1970/1797). Ausdrücklich hat sich 1811 Vinzenz Eduard Milde (1965) in seinem „Lehrbuch der allgemeinen Erziehungskunde“ für die Bildung der Gefühle und des Begehrungsvermögens ausgesprochen, und Alexander Mitscherlich stellt fest: „Die Kultur der Affekte ist das eigentlich schwerste Bildungsziel“ (Mitscherlich 2003, 34). Darüber hinaus zählen zu der Lerndimension Wollen auch die Elemente, die der Schweizer Pädagoge Peter Schmid mit Blick auf eine pädagogisch-anthropologische Begründung von Verhaltensstörungen als relevant erachtet (Schmid 1985): die Bereiche des Antriebs, der Beziehungen, des Willens, der Werte, der Affekte, der Stimmungen und des Erlebens. Auf den Punkt gebracht ist festzuhalten, dass sich die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen nicht nur auf den Erwerb von Fertigkeiten und Kenntnissen bezieht, sondern auch und besonders auf die seelische Verfassung. Denn wie bei fast allen Funktionsbereichen des Menschen liegen auch im Bereich des Wollens zwar biologisch verankerte Dispositionen und Reaktionsbereitschaften vor, die sich jedoch nicht entsprechend eines Reifungsmodells ungehindert und gemäß einer genetischen Vorgabe entfalten, sondern sich im Grunde durch spezifische (Erziehung) und durch unspezifische (Sozialisation) äußere Einflüsse ausbilden bzw. ausbilden lassen.

Ziel der Erziehung

Erziehung gibt sich als eine Notwendigkeit zu erkennen. Sie antwortet auf den Tatbestand der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, knüpft an dessen Bildsamkeit an und ermöglicht Lernprozesse in unterschiedlichen Lerndimensionen und in verschiedenen Lebensaltern, die letztendlich ganz unspektakulär dazu führen sollen, „die Probleme der Wirklichkeit selbst zu bewältigen“ (Heitger 1961, 111). Sicherlich ist hier noch nichts darüber gesagt, wie die Probleme der Wirklichkeit bewältigt werden können. Reicht es aus, einfach genügend entsprechend funktionale Kompetenzen additiv und spezifisch auf die jeweiligen, im Laufe des Lebens sich stellenden Herausforderungen zu erwerben – im Sinne: Neue Herausforderung, neue Kompetenz? Oder zielen wir mit der Erziehung auf die sogenannte Bildung, die letztendlich das schnöde Geschäft der Erziehung, die mitunter auch als Zumutung aufgefasst wird, adelt und den Menschen zum Wahren, Schönen und Guten emporbildet? Ziel der Erziehung, um noch einmal auf Wolfgang Sünkel (2011) zurückzukommen, ist die Vermittlung von Tätigkeitsdispositionen – hierzu gehören Fertigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen & Haltungen –, die sich beim Menschen nicht als Ergebnis genetisch vorgegebener Reifungsprozesse ergeben, sondern durch Lernen erworben werden müssen. Diese zu erwerbenden Tätigkeitsdispositionen werden als geeignet und brauchbar angesehen, um das eigene Leben führen zu können, also die Probleme der Welt, wie Marian Heitger sagt, selbst bewältigen zu können. Zwar kommt diese Auffassung ohne „die üblichen Pathosformeln“ (Prange 2010, 23) aus, doch bleibt der Verweis auf die Funktionalität etwas blass und blutleer. Es scheint so zu sein, dass die funktionalistische Zieldimension um eine ethisch-moralische Zieldimension erweitert werden muss. In diesem Sinne können wir das Ziel der Erziehung probeweise auch darin sehen, ein Leben in personaler Selbstbestimmung führen zu können. Dieser Begriff erweitert nun die Operationen von Zeigen/Vermitteln und Lernen/Aneignen um eine ethisch-moralische Perspektive. Personale Selbstbestimmung meint zunächst nicht Selbstverwirklichung, die es gewissermaßen auf größtmögliche (Gewinn-)Maximierung der eigenen Vorteile abgesehen hat und die ihrem Wesen nach nicht selten selbstbezogen in Erscheinung tritt. Gedacht ist hier also nicht an den sogenannten „Amerikanischen Traum“, demzufolge „jeder seines Glückes Schmied“ ist und mit Erfolg belohnt wird, wenn er sich nur gut genug anstrengt. Selbstverwirklichung mag dann gut klingen, wenn das Leben überwiegend als Erfolgsgeschichte geschrieben werden kann. Problematisch wird die selbstbezogene Selbstverwirklichung dann, wenn das Leben strauchelt, in die Krise gerät oder gar vom Scheitern bedroht ist. Dann entsteht nicht selten der Eindruck, man sei für diese Misere selbst verantwortlich. Wenn alles im Leben auf Selbstverwirklichung gesetzt ist, kann Misserfolg einsam machen und Verzweiflung hervorrufen – ganz zu schweigen von den Zeitgenossen, die das Mantra der Selbstverwirklichung teilen und für die nun das Scheitern auf eigenes, ganz individuelles Versagen zurückzuführen ist. Von besonderen und erschwerenden Bedingungen der eigenen Lebenspraxis, die nicht unbedingt im Einflussbereich des Individuums liegen, ist hierbei keine Rede. Diesem Verständnis nach erscheint uns Selbstverwirklichung als Ziel der Erziehung als eine Sackgasse, die eher nicht zu einem „glückenden“ und „guten“ Leben führt (Platon 1960).

Personale Selbstbestimmung als Ziel der Erziehung hat also nichts mit Selbstverwirklichung zu tun, sondern zielt auf die Ausbildung dreier unterschiedlicher, aber doch aufeinander bezogener Verhältnisse, die auch schon in den prominenten Bildungsentwürfen anklingen, und die es erlauben, die Grundfragen des Menschen näher zu bestimmen. Wenn wir mit dem amerikanischen Philosophen Donald Davidson (2004) davon ausgehen, dass der Mensch erstens wissen will, was da draußen mit der Welt los ist, dass er zweitens wissen will, was die anderen denken und dass er drittens wissen will, was er selbst denkt, muss Erziehung Bedingungen hervorbringen, die es möglich machen, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Es geht also um Bedingungen, die einen reflektierten Bezug zur Welt, zu den Anderen und zu sich selbst ermöglichen: „Sachbezug, Sozialbezug und Selbstbezug; mehr nicht“ (Prange 2010, 28). Personale Selbstbestimmung, verstanden als ein „innerer Halt“ (Moor 1960), der uns durch das Leben trägt und den es auszubilden gilt, vereint objektive (Sachbezug), intersubjektive (Sozialbezug) und subjektive (Selbstbezug) Verhältnisbestimmungen. Um diese zentralen Verhältnisbestimmungen reflexiv gestalten zu können, muss sich Erziehung an den ethischen Prinzipien der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Achtung und Anerkennung und Freiheit und der Freiheitlichkeit orientieren. Wie unschwer zu erkennen ist, stehen diese ethischen Prinzipien für die unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen: Wahrheit und Wahrhaftigkeit für den (objektiven) Sachbezug, Achtung und Anerkennung für den (intersubjektiven) Sozialbezug und Freiheit und Freiheitlichkeit für den (subjektiven) Selbstbezug. Sowohl der Prozess der Erziehung als auch das Ziel der Erziehung haben sich nach diesen ethischen Prinzipien zu richten. Fokussieren wir den Prozess und damit auf die didaktische Seite der Erziehung, dann realisieren sich die ethischen Prinzipien durch ein Zeigen, das prinzipiell verständlich, anschlussfähig und zumutbar ist (Prange 2005; 2010). Erst durch die Orientierung an diesen ethischen Prinzipien und der hieraus abgeleiteten Moral des Zeigens (Verständlichkeit, Zumutbarkeit und Anschlussfähigkeit) gibt sich Erziehung als das zu erkennen, was sie ihrem Wesen nach ist – und sie grundlegend von Dressur, Konditionierung und anderen Formen missverstandener „Erziehung“ kategorial unterscheidet.

Im Wesentlichen geht es darum, Wissensbestände, Fertigkeiten und Willenseinstellungen zu vermitteln, die dazu beitragen, wahrhaftiges, freiheitliches und anerkennendes Handeln, Denken und Fühlen zu befördern.

Personale Selbstbestimmung als Ziel der Erziehung hebt also auf die Ausbildung der Möglichkeit zur reflexiven Gestaltung der Verhältnisse des Menschen zur Umwelt, zu den Mitmenschen und zu sich selbst unter den Bedingungen von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, von Achtung und Anerkennung und von Freiheit und Freiheitlichkeit ab. Und um diese Verhältnisse reflexiv ausbilden und gestalten zu können, bedarf es eines gehörigen Maßes an Kenntnissen, Fertigkeiten und Einstellungen & Haltungen, die sich nicht als Reifungsprozesse von selbst ergeben, sondern erzieherisch vermittelt werden müssen.

 

Literatur

Aristoteles (2006): Nikomachische Ethik. Reinbek bei Hamburg.

Bang, R. (1971): Das gezielte Gespräch. Band 1. Gespräche als Lehr- und Heilmittel (2. Auflage). München Basel.

Davidson, D. (2004): Subjektiv, intersubjektiv, objektiv. Frankfurt am Main.

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Autor:in

Stephan Ellinger, Prof. Dr.

Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Fakultät für Humanwissenschaften, Wittelsbacherplatz 1, 97074 Würzburg

stephan.ellinger@uni-wuerzburg.de

Oliver Hechler, Prof. Dr.

Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Fakultät für Humanwissenschaften,

Wittelsbacherplatz 1, 97074 Würzburg

oliver.hechler@uni-wuerzburg.de