Das Gemälde zeigt mittig die einander zugewandten Köpfe eines Mannes und eines Kindes vor weißem Hintergrund.

Die Bilder zu den Thema-Artikeln in dieser Ausgabe der Zeitschrift stammen von Arnkjell Ruud und Hannes Weigert aus der Malerverksted (Malerwerkstatt) von Vidaråsen Landsby in Norwegen. Hier zu sehen: Karl König mit Kind, 2016 © Arnkjell Ruud / Hannes Weigert

aus Heft 6/2020 – Fachthema
Jan Göschel

Inklusive Sozialgestaltung – Die Suche nach einer gemeinsamen Zukunft

Die Corona-Pandemie trägt als globales Ereignis zwei miteinander verbundene Charakterzüge, die für die Frage nach Konzepten für eine gemeinsame Zukunft entscheidend sind. Zum einen ist diese Pandemie wohl das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass wir derart bewusst aufgrund der technologischen Möglichkeiten als globale Menschheit durch einen gemeinsamen Prozess gehen. Zum anderen ist die Corona-Pandemie als globales Phänomen dadurch charakterisiert, dass soziale Bruchstellen durch sie sichtbar werden.

Beschleunigung durch technologische Entwicklung

Natürlich gab es auch schon in der Vergangenheit sowohl Naturereignisse als auch menschengemachte Krisen und Veränderungsprozesse, die globale Auswirkungen hatten. Aber die Erfahrung, einen weltverändernden Vorgang in Echtzeit bewusst im weltumspannenden Kontakt miteinander zu erleben, zu interpretieren und zu vollziehen, ist erst durch die Entwicklung der Kommunikationsinfrastruktur der letzten 12 oder 13 Jahre möglich geworden.
In seinem Buch Thank You for Being Late stellt Thomas Friedman (2016) fest, dass das Jahr 2007 einen entscheidenden Wendepunkt markiert. Das erste iPhone kam 2007 auf den Markt. Als erstes Smartphone wurde es zu einem Knotenpunkt, der mehrere technologische Durchbrüche in der Datenspeicherung, -verarbeitung und -übertragung miteinander verknüpfte. Cloud-Infrastruktur, gepaart mit hohen Datengeschwindigkeiten und der fast überall verfügbaren Netzanbindung sowie der Leistungsfähigkeit kleiner, (relativ) erschwinglicher und mobiler Endgeräte, die wie ein Accessoire zu dem gehören, was man selbstverständlich mit sich trägt, wenn man aus dem Haus geht, schaffen eine grundlegend neue Welt: „Not only could you touch people whom you had never touched before or be touched by them, but you could do all these amazing, complex things with one touch“ (Friedman 2016, 99).
Dieser Quantensprung führte in eine neue technologische Entwicklungsphase, in der wir uns immer noch befinden. Er brachte eine bis in die 1990er Jahre für die meisten Menschen noch unvorstellbare Beschleunigung mit sich, die mit einem Wandel fast aller Aspekte des Alltagslebens einherging und dieses inzwischen tief durchdringt. Im September 2020 hatten etwa 45% der Weltbevölkerung ein Smartphone, etwa 65% ein Mobiltelefon, wenn man die einfacheren Versionen mitzählt (bankmycell 2020). Sowohl die sozialen Medien – von Facebook und Instagram über Snapchat bis zu TikTok und deren Nachfolger – als auch das neue Wirtschaftsmodell der Platform Economy – mit Beispielen wie Airbnb, Uber, Amazon und Alibaba –, das Elemente der sozialen Medien übernimmt und darauf aufbaut, entwickeln sich seit 2007 explosionsartig und verändern die Rahmenbedingungen für Wirtschaft, Sozialleben, Politik und Kultur mit einer Geschwindigkeit, der die sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Vereinbarungen, die im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt wurden, nicht mehr gewachsen sind.

Soziale Bruchstellen

Dies führt zum zweiten Charakteristikum der Corona-Pandemie als globalem Phänomen: Soziale Bruchstellen werden durch sie sichtbar – überall da, wo in einer Gesellschaft, in einem Gemeinschaftszusammenhang, ein wirtschaftliches, soziales oder kulturelles Defizit an Inklusivität vorliegt. Auf der einen Seite gehen wir durch diesen Prozess mit dem Bewusstsein, dass er ein globaler ist. Es gibt kein „wo anders“ mehr. Weder geschieht die Sache „wo anders“ noch gibt es ein „wo anders“, wohin ich diesem Prozess entfliehen könnte. Ich kann mit Menschen überall auf der Welt in Kontakt sein und wir haben sofort einen gemeinsamen Referenzpunkt, können uns austauschen über das, was wir gemeinsam erleben – egal wie weit wir geographisch voneinander entfernt sind. Natürlich, jeder erlebt es anders, es gibt Unterschiede in den Ausgangssituationen, im Grad der Vulnerabilität gegenüber Krankheit und in Bezug auf die wirtschaftliche Situation. Aber wir nehmen es als ein Ereignis wahr, in dem wir alle stehen, nicht als eine Vielzahl einander vielleicht ähnlicher, aber doch voneinander isolierbarer Ereignisse.
Aber gerade dadurch wird sichtbar, wie wir unterschiedlich in diese eine Situation hineingestellt sind. Dabei rücken vor allem auch die wirtschaftlichen Ungleichheiten in den Vordergrund, die sich mit verstärkter Intensität seit der Weltwirtschaftskrise 2008 (im Jahr nach der Einführung des Smartphones) entwickelt haben, deren Ursprünge sich aber in den westlichen Ländern in das letzte Jahrhundert zurückverfolgen lassen. So zeigen Weinman und Vormann (2020) auf, wie die konstitutiven Prinzipien der liberalen Demokratien und der Nachkriegszeit und ihrer sozialen Marktwirtschaften, die den westlichen Raum im 20. Jahrhundert geprägt haben, schon in den 80er Jahren zunächst durch konservative Regierungen, die infolge der Wirtschaftskrisen der 70er Jahre an die Macht kamen, ausgehöhlt wurden – ein Projekt, das dann von den großen Parteien links des Zentrums in Europa und Nordamerika in den 90er und frühen 2000er Jahren fortgesetzt wurde, die sich nun auch das neoliberale Paradigma zu eigen machten. Zentrales Motiv dieses Projektes war es, das Primat der freien Marktwirtschaft über die Prinzipien einer freiheitlichen politischen Ordnung zu stellen und die sozialen Absicherungssysteme und Arbeitnehmerrechte abzubauen, die bis dahin zumindest ein für den demokratischen Prozess notwendiges Mindestmaß an Gleichgewicht in Bezug auf sozial inklusive Mitsprachemöglichkeiten, Teilhabe und gesellschaftliche Kohäsion aufrechterhielten. Das Versprechen war, dass wirtschaftliche, demokratische und gesellschaftliche Teilhabe auf dem Boden einer freien, ungezügelten Marktwirtschaft von selbst entsteht.
Solange sich der Lebensstandard der Mehrheit durch anhaltendes Wirtschaftswachstum in den Jahren zwischen dem Fall der Sowjetunion 1989 und der Weltwirtschaftskrise 2008 kontinuierlich verbesserte, stellte sich diese markwirtschaftlich dominierte neoliberale Politik als ebenso erfolgreich wie alternativlos dar und bildete in ihren Grundzügen einen Konsens, der von allen großen Mehrheitsparteien vertreten wurde – gleich ob links oder rechts der Mitte. Als das Wachstum dann ab 2008 ins Stocken geriet, platzte diese Blase, wobei die Schuld an den jetzt erlebbaren Konsequenzen im öffentlichen Bewusstsein oft nicht primär dem neoliberalen Wirtschaftssystem zugeschrieben wird, sondern der liberal-demokratischen politischen Ordnung, die sich damit in eine sich derzeit immer noch verschärfende Legitimationskrise bewegt.

Politik der Angst

Die Politik der Angst (siehe Weinman & Vormann 2020), die von rechtspopulistischen Bewegungen heute im ganzen westlichen Raum betrieben wird, ist eine unmittelbare Folge dieser Entwicklung. Sie wird getrieben vom Gefühl der „Left-Behinds“, sowohl aus der wirtschaftlichen Teilhabe an den sich weiterhin beschleunigenden technologischen Fortschritten als auch von der Teilhabe im liberal-demokratischen Prozess ausgeschlossen worden zu sein. Die Politik der Angst bietet in Form einer ethno-nationalistischen Konstruktion von Identität eine Möglichkeit für die gesellschaftlich-kulturelle Mehrheit, sich wieder als integraler Teil eines Demos zu identifizieren und verlagert die Schuld für den erlebten Ausschluss von wirtschaftlicher, politischer – und letztlich auch kultureller – Teilhabe auf Feindbilder, die als außerhalb dieses ethno-national definierten Demos stehend angesiedelt werden: ausländische Mächte, Einwanderer und heimatlose, globale, kosmopolitisch orientierte Eliten ohne ethno-nationale Loyalitäten.
Aus dieser Situation stehen wir heute mit Blick auf eine gemeinsame menschliche, soziale und gesellschaftliche Zukunft vor verschiedenen Fragen:
Wie gestalten wir angesichts der technologischen Entwicklungen, die eine Konzentration von Kapital und damit auch wirtschaftlicher und politischer Macht in immer weniger Händen begünstigen, eine inklusive und solidarische Wirtschaft, die eine angemessene Lebensqualität für alle sicherstellt – einschließlich der Erde und ihrer nichtmenschlichen Lebewesen selbst?
Wie bilden wir politische Gemeinwesen als Nachbarschaften, in denen jedes Mitglied sein Mitspracherecht wirksam ausüben und am politischen Prozess der Debatte und Kompromissfindung teilnehmen kann – und dies auch erlebbar und nachvollziehbar wird?
Wie schaffen wir die für jedes politische Gemeinwesen und jede solidarische Wirtschaft notwendige Kohäsion und Vertrauensbasis, ohne uns an ethno-nationalistischen Identitätsvorstellungen festzuhalten, die mit dem kosmopolitischen Bewusstsein einer globalen menschlichen Gemeinschaft und dem Streben nach einer Begegnung von Mensch zu Mensch auf Augenhöhe unvereinbar sind?
Wie bilden wir dadurch einen Sozialraum, in dem jedes Individuum seine eigenen biographischen Impulse entfalten, in den gemeinsamen Entwicklungsprozess einbringen und sich dadurch auch selbst weiterentwickeln kann?

Anthroposophische Jugendbewegung

Die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie hat ihre Wurzeln in der anthroposophischen Jugendbewegung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die schon damals vor ähnlichen Fragen stand. Damals war es eine Generation der industrial Natives, die keine Verbindung zu einer Zeit vor der Industriellen Revolution mehr hatte und die nach dem ersten industriell geführten Krieg vor der Frage stand: Wie lässt sich in einer Welt, in der die alten Strukturen nicht mehr tragen, eine Form des sozialen Zusammenseins gestalten? Heute stehen die ersten digital Natives im jungen Erwachsenenalter – eine Generation, die sich zwar gerademal noch an eine Zeit vor dem Smartphone erinnert, aber die doch schon von Anfang an in eine digitale Welt hineinwuchs.
Die anthroposophische Jugendbewegung der frühen 20er Jahre des letzten Jahrhunderts wollte im Sinne der von Rudolf Steiner beschriebenen Dreigliederung des sozialen Organismus (siehe z.B. Steiner 1982) eine menschlichere Zukunft gestalten. Wie lässt sich ein solidarisches Wirtschaftsleben im Sinne der „Brüderlichkeit“ gestalten? Wie können die Mitglieder eines Gemeinwesens auf Augenhöhe unter dem Motto der „Gleichheit“ in Dialog gehen und die Vereinbarungen treffen, die den Rahmen des gemeinsam gebildeten Sozialraums abgeben? Und wie kann sich darin ein Kultur- und Geistesleben unter dem Vorzeichen der „Freiheit“ entfalten, durch das aus den Impulsen und Fähigkeiten jedes Einzelnen immer wieder neue innovative Impulse das Ganze befruchten und erneuern? Und wo gab es Gestaltungsräume, in denen tatsächlich praktisch an diesen Fragen gearbeitet werden konnte?
Vermittelt durch Änne Trüper, die Tochter des renommierten Reformpädagogen Johannes Trüper (1855–1921), die in der anthroposophischen Jugendbewegung aktiv war, standen drei ihrer Freunde – Siegfried Pickert, Franz Löffler und Albrecht Strohschein – nun auf einmal vor der Möglichkeit, eine bestehende heilpädagogische Einrichtung in Jena, das Heim Sophienhöhe, zu übernehmen. Sie erkannten hier, in einem ihnen bis dahin komplett unbekanntem Arbeitsfeld, die Möglichkeit, im Sinne ihrer gesamtgesellschaftlichen Ideale und Fragestellungen praktisch wirksam zu werden. Obwohl diese Übernahme letztlich nicht gelang, kam es 1924 stattdessen zur Neugründung des „Heil- und Erziehungsinstituts für Seelenpflege-bedürftige Kinder Lauenstein“ in Jena, der ersten anthroposophischen heilpädagogischen Initiative (vgl. Frielingsdorf, Grimm & Kaldenberg 2013; Edlund 2010).
Auf die Anfrage nach Unterstützung und Begleitung ihrer Initiative gab Rudolf Steiner im gleichen Jahr den sogenannten Heilpädagogischen Kurs (Steiner 1995), der die paradigmatischen Grundlagen der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie im Rahmen eines intimen Workshops mit einer kleinen Gruppe von vorwiegend Pädagogen und Ärzten entwickelte. Der Kurs steht im Spannungsfeld zwischen dem großen Ideal der jungen Pioniere und den konkreten Bedürfnissen der einzelnen Kinder. Immer wieder führt Rudolf Steiner die Aufmerksamkeit von dem Wunsch, Welt und Gesellschaft grundlegend zu verwandeln, hin auf die ganz detailliert und konkret wahrgenommenen Bedürfnisse des einzelnen Menschen auf seinem komplexen Entwicklungsweg.
Lesen wir den Kurs als Antwort auf die große existentielle Frage: Wie gestalten wir Gesellschaft von Grund auf neu? – so ist seine Antwort: Ihr könnt dies nur aus jedem einzelnen Menschen ablesen. Jedes Kind, jeder Mensch in Entwicklung, ist ein eigenes Rätsel. Die Prinzipien, nach denen wir Gemeinschaft und Gesellschaft neugestalten, lassen sich nicht abstrakt als allgemeingültige Form, als allgemeines Programm entwickeln. Stattdessen müssen wir lernen, den einzelnen Menschen neu wahrzunehmen und diese Wahrnehmung in eine bildhaft-imaginative Erkenntnis überzuführen, aus der wir zu kreativen Ideen und Leitbildern auch gerade für die Gestaltung unserer sozialen Zusammenhänge finden. Wir müssen lernen, im Anderen zu lesen, was von uns sozial gefordert wird, wie wir heilend und entwicklungsfördernd in den sozialen Zusammenhang eingreifen und dort wirksam werden können.

Inklusive Gemeinwesen heute

Über nun fast 100 Jahre haben die Organisationen und Initiativen der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie das geübt: durch die geschulte Wahrnehmung des einzelnen Menschen und der menschlichen Beziehungen und Entwicklungsbedingungen geleitet Gemeinschafts- und Sozialräume zu bilden, die mögliche Antworten auf die Fragestellungen bieten, die sich aus der Perspektive der sozialen Dreigliederung stellen. Diese Prototypen einer neuen Gemeinschaftsbildung formten sich oft in relativer Eigenständigkeit als auch geographisch abgegrenzte Freiräume für soziale Gestaltung, als „Kulturinseln“ (vgl. Edlund 2010). Heute stellt sich aber immer mehr die Frage, wie diese Prototypen und das in ihnen Gelernte in die weiteren gesellschaftlichen Zusammenhänge hinauswirken kann. Spätestens seit der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) steht diese Aufforderung auch explizit formuliert und auf globaler Ebene im Raum: Es reicht nicht mehr aus, in geschützten Räumen zu experimentieren, sondern der Wunsch ist da, in weiten Teilen der Weltöffentlichkeit gemeinsam zu lernen, wie wir ganz im öffentlichen Raum inklusive Gemeinwesen gestalten.
Dazu beizutragen, heißt auch für die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie, sich weiterzuentwickeln. Die nächsten Schritte heute finden im Dialog und in Partnerschaft mit den Gemeinwesen statt, in denen anthroposophische Initiativen und Organisationen existieren. Das bedarf einer neuen Dialogfähigkeit über Sprachgrenzen und kulturelle Unterschiede hinweg. Die Heilpädagogik und Sozialtherapie muss sich als Beispiel und Beitrag zu einem weiter gefassten Impuls der inklusiven Sozialgestaltung immer wieder neu finden und konstituieren. Sie wird damit Teil einer globalen Suche nach den Prinzipien und einer Praxis der inklusiven Gemeinschaftsbildung, die Antworten auf die eingangs aufgezeigten existentiellen Fragestellungen der heutigen globalen Gesellschaft entwickelt.
Was die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie zu dieser Suche beitragen kann, ist nicht nur der über Jahrzehnte gebildete Erfahrungsschatz an gelingenden und – genauso wichtig – nicht gelingenden Versuchen der inklusiven Sozialgestaltung, sondern auch immer wieder die zentrale Geste des Heilpädagogischen Kurses: die Lösungen für Fragen der Sozialgestaltung aus der detaillierten Wahrnehmung und dem imaginativen Verständnis für die Situation des konkreten, einzelnen Menschen abzulesen und situativ zu gestalten und zu formen. Damit bietet sie eine Alternative zu programmatischen – auch parteipolitischen – Lösungsansätzen, die aber dadurch auch eine Herausforderung darstellt. Ein Programm lässt sich kommunizieren. Die Fähigkeit zu menschengerechtem, situativem Handeln und Gestalten, das aus der konkreten Situation neue Ideen entwickelt und umsetzt, lässt sich aber nur durch Übung ausbilden.
Der Beitrag der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie liegt also weniger in einem Programm, in bestimmten Formen und Praktiken, die übernommen und implementiert werden könnten, sondern in einer inneren Haltung und Orientierung auf den Menschen hin, die individuelle soziale Kreativität ermöglicht und freisetzt. Diese – und die Bedingungen für ihre Entwicklung – bilden das eigentliche Herz des Erfahrungsschatzes, den fast 100 Jahre anthroposophische Arbeit auf diesem Feld mit sich bringt. Dies neu zu fassen, im weitesten Sinne inklusive Zugangswege zu dieser inneren Orientierung zu eröffnen und sie gesellschaftlich fruchtbar zu machen, das ist die zentrale Herausforderung, vor der die anthroposophische Bewegung für inklusive Sozialgestaltung jetzt steht.

Nachhaltige kleine Utopien

Die amerikanische Autorin Rebecca Solnit (2010) beschreibt, wie sich in Katastrophensituationen – in Naturkatastrophen ebenso wie in menschengemachten – spontan Gemeinschaften bilden: sogenannte Disaster Communities, die sich selbst organisieren, außerhalb der oft schwerfälligen Prozesse der institutionellen Katastrophenhilfe, und die situativ und ressourcenorientiert Problemlösungen für die konkrete Situation vor Ort schaffen. Diese Disaster Communities verkörpern ein inhärentes inklusives Prinzip – nicht, weil Inklusivität Programm ist, sondern weil sie gar kein Programm haben, außer die konkreten Probleme der tatsächlich existierenden Menschen in der jeweiligen Situation zu lösen – und zwar aus den Ressourcen eben dieser Menschen. So entstehen in Katastrophensituationen ganz organisch aus dem, was einfach im Menschen als Beziehungswesen angelegt ist, kleine Utopien. Sie sind zwar meist nicht von langer Dauer, erlauben aber eine Art Ausblick auf das, was menschlich möglich ist. Sie sind ein Grund für die Feststellung von Rutger Bregman (2020), dass der Mensch – entgegen aller zynischen Annahmen des modernen Menschenbildes – im Grunde gut sei.
In der inklusiven Sozialgestaltung geht es darum, wie wir angesichts der Desaster des gewöhnlichen Lebens dauerhaftere Disaster Communities innerhalb des Alltagslebens und der teils immer weniger funktionsfähigen Strukturen und Institutionen des gesellschaftlichen Lebens entwickeln können – und dies insbesondere gemeinsam als jene und mit jenen Menschen, die am stärksten von diesen Katastrophen betroffen und ihren Wirkungen ausgesetzt sind. Die einzige Bedingung, die nach Solnit (2010; 2016) dafür unabdinglich ist, ist diese, dass die Menschen frei in Beziehung zueinander treten können. Wenn dies gegeben ist, regelt sich alles andere mehr oder weniger selbst.
In der gegenwärtigen Situation wird genau diese Möglichkeit, frei miteinander in Beziehung zu treten, infrage gestellt – nicht nur in der Corona-Pandemie, sondern durch alle anonymisierenden und isolierenden Tendenzen der modernen Gesellschaft. Als Begegnungs- und Beziehungskunst, aus der Praxis der geschulten Aufmerksamkeit auf den einzelnen Menschen, ist die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie hier dazu aufgefordert, nicht die Lösungen in fertiger Form anzubieten, sondern vielmehr eben dort anzusetzen: mit Ideen und Initiativen die Menschen dort, wo Begegnung und Beziehung problematisch werden, miteinander in Berührung zu bringen, und für dieses In-Berührung-Bringen die Werkzeuge und Methoden bereitzustellen. Dadurch wird das soziale Feld so fruchtbar gemacht, dass alles andere situativ aufkeimen und sich entwickeln kann, so wie es im jeweiligen sozialen Ökosystem gerade notwendig und möglich ist.
So könnte man sich die Rolle der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie im Gegenwartszusammenhang als ein merkuriales Element vorstellen, das Beweglichkeit in menschliche Gemeinschaften, Gemeinwesen und Beziehungen bringt – und damit die Voraussetzungen für das Entstehen neuer inklusiver Lösungen und sozialer Entwicklungsschritte schafft, ohne diese selbst in fertiger Form zur Verfügung stellen zu wollen. Auf diese Weise kann sie die Entwicklung inklusiver Gemeinwesen im partnerschaftlichen Dialog und einem dialogischen und konkreten nachbarschaftlichen Zusammenwirken ermöglichen und fördern.

Literatur

bankmycell (2020): How many smartphones are in the world? Download unter https://www.bankmycell.com/blog/how-many-phones-are-in-the-world [19.09.2020].
Bregman, R. (2020): Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit. Hamburg: Rowohlt.
Edlund, B. (2010): Kulturøyer: Antroposofiske tiltak for mennesker med spesielle behov 1924–1990. Oslo: Anthropos Forlag.
Friedman, T. L. (2016): Thank You for Being Late. An Optimist’s Guide to Thriving in the Age of Accelerations. New York: Picador.
Frielingsdorf, V., Grimm, R. & Kaldenberg, B. (2013): Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie: Entwicklungslinien und Aufgabenfelder 1920–1980. Oberhausen: Athena Verlag.
Solnit, R. (2010): A Paradise Built in Hell: The Extraordinary Communities That Arise in Disaster. New York: Penguin.
Solnit, R. (2016): Hope in the Dark: Untold Histories, Wild Possibilities. New York: Haymarket Books.
Steiner, R. (1982): Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915–1921 (GA 024). Dornach: Rudolf Steiner Verlag.
Steiner, R. (1995): Heilpädagogischer Kurs (GA 317). Dornach: Rudolf Steiner Verlag.
Weinman, M. D. & Vormann, B. (2020): From a Politics of No Alternative to a Politics of Fear. In: Vormann, B. & Weinman, M. D. (eds.). The Emergence of Illiberalism: Understanding a Global Phenomenon. New York: Routledge, 3–26.

Jan Göschel, Dr. phil.

Geb. 1974, ist Geschäftsführer und Mitglied des Leitungsteams des Anthroposophic Council for Inclusive Social Development, der Dachorganisation des weltweiten Netzwerkes anthroposophischer Organisationen im Feld der Heilpädagogik und inklusiven Sozialgestaltung mit Sitz am Goetheanum in Dornach, Schweiz. Er lebt in einer Camphill Gemeinschaft bei Philadelphia (USA) und ist außerdem noch Präsident der Camphill Academy, der Trägerorganisation der Ausbildungen der Camphill Bewegung in Nordamerika. Er ist in München aufgewachsen, hat an der Universität Edinburgh Psychologie und in den USA Sonderpädagogik studiert und an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln mit einer Arbeit zum Modell der Kinderkonferenz in der anthroposophischen Heilpädagogik promoviert.
j.goeschel@inclusivesocial.org