Eine Comiczeichnung zeigt einen Mann und eine Frau, die im Begriff sind, sich zu küssen.

„Alles Liebe?“ Unter diesem Titel bringt ein Comic für junge Menschen mit Lernschwierigkeiten eine Aufklärungsgeschichte über Freundschaft, Achtsamkeit und Gewalt. Bild: Brigitte Fries

aus Heft 3/2020 – Comic
Jlanit Schumacher

Alles Liebe? Eine Geschichte über Freundschaft, Achtsamkeit und Gewalt

Lena und Jan sind zwei Jugendliche mit Lernschwierigkeiten. Sie leben ein Leben wie viele andere Jugendliche auch, sie lieben sich und unternehmen viel gemeinsam. Jan wohnt zuhause bei seinen Eltern und geht noch zur Schule. Lena lebt in einer betreuten Wohngruppe und arbeitet in einer Gärtnerei. Dort erlebt sie einen sexuellen Übergriff durch ihren Lehrmeister. Das ist schlimm für Lena, doch zum Glück wird ihr geholfen und die Gewalt nimmt ein Ende. In Jan hat Lena einen Freund, der trotz allen Problemen zu ihr hält und mit dem sie voller Zuversicht in die Zukunft blicken kann.

Sexuelle Gesundheit

Sexuelle Gewalt ist nach wie vor ein Tabuthema und steht in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld. Jugendliche und Erwachsene mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen oder Lernschwierigkeiten gehören dabei zu einer äußerst vulnerablen Personengruppe, deren Risiko, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, um ein Vielfaches größer ist als für die Allgemeinbevölkerung. Deshalb ist Prävention von sexueller Gewalt bei Menschen mit diesen Beeinträchtigungen ein wichtiges Handlungsfeld des Bereichs der sexuellen Gesundheit. Die Verankerung der Prävention sexueller Ausbeutung in den Strukturen und Prozessen einer Institution zielt darauf ab, Schwellen für Taten zu erhöhen und die Offenlegung bei erfolgten Taten zu erleichtern. Sensibilisierte Bezugspersonen erhöhen die Chancen, dass sich Betroffene an sie wenden und somit die dringend notwendige Unterstützung und Hilfe erhalten. Eine 100-prozentige Sicherheit kann es nicht geben, jedoch ein Maximum an Achtsamkeit. Kinder und Jugendliche orientieren sich am Verhalten ihrer Bezugspersonen. Das heißt, je achtsamer eine Bezugsperson Grenzen wahrnehmen und kommunizieren kann, umso mehr wirkt sie täglich als hilfreiches Vorbild. In einem ersten Schritt sind Bezugspersonen also herausgefordert, über sich selbst und über die Strukturen und Prozesse ihrer Begleit- und Beziehungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Menschen mit Behinderungen zu reflektieren. Etliche Studien und praktische Erfahrungen haben gezeigt, wie wichtig dabei qualitativ gute und die Adressatinnen und Adressaten ansprechende Materialien sind.

Comic „Alles Liebe?“

Der Comic „Alles Liebe?“ wurde für Jugendliche mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung entwickelt. Er bietet mit vielen Bildern eine wertvolle Grundlage, um Worte rund um die anspruchsvollen Themen von Beziehungsgestaltung und Geschlechterrollen, Sexualität und Grenzen sowie ganz konkret sexuellem Missbrauch zu finden. Dabei ist es wichtig, dass Jugendliche bei der ersten Auseinandersetzung mit dem Comic durch erwachsene Bezugspersonen gut begleitet werden. Die Gefühle und Fragen, die beim Lesen oder auch danach auftauchen können, müssen zeitnah aufgefangen und besprochen werden können. Es kann vorkommen, dass Betroffene mithilfe des Comics „Alles Liebe?“ erstmals eine Einordnung und Sprache für bereits erlebte Grenzüberschreitungen oder sogar Missbrauch erhalten und davon berichten. Daher wird ausdrücklich geraten, sich bereits im Vorfeld persönlich und fachlich mit der Thematik der sexualisierten Gewalt auseinanderzusetzen. Die Geschichte im Comic „Alles Liebe?“ ist dabei so gestaltet, dass jede Szene als Ausgangsbasis für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem dargestellten Thema dienen kann.

Schutz- und Experimentierräume

Das begleitende Manual dient der oben beschriebenen Vorbereitung und unterstützt Bezugspersonen dabei, eine Balance zwischen Bagatellisierung und Dramatisierung zu finden. Dabei gliedert das Manual die Geschichte des Comics in thematische Schwerpunkte. In der ersten Hälfte der im Comic beschriebenen Geschichte – und somit auch des Manuals – steht die präventive Ebene rund um Schutz- und Experimentierräume unter Jugendlichen im Vordergrund. Denn in den institutionellen Kontext gehört auch das Recht auf eine Privat- und Intimsphäre. Nur so können der eigene Körper und das eigene Lustempfinden ungestört erkundet und entwickelt werden. Ein positiver Zugang zum eigenen Körper und zur eigenen Sexualität stärkt das Individuum auch in der Differenzierung der eigenen Körperwahrnehmung und hilft somit, Unangenehmes bzw. Ungewolltes klarer zu erkennen und entsprechend abzulehnen oder sich falls nötig Unterstützung und Hilfe zu suchen.

Intervention

Nach der expliziten Darstellung eines sexuellen Übergriffs fokussiert die zweite Hälfte der Publikation die Themen Intervention und Nachsorge bei sexualisierter Gewalt. Der Geheimhaltungsdruck ist ein zentraler traumatisierender Faktor bei sexueller Ausbeutung. Einerseits möchten Betroffene auf die erlebte Gewalt hinweisen, andererseits darf niemand etwas davon wissen. Die Folge davon ist, dass manche Opfer sexueller Ausbeutung bewusst oder unbewusst versuchen, mit Symptomen und/oder in Form von Verhaltensauffälligkeiten auf das Erlebnis hinzuweisen. Leider gibt es kaum eindeutige Signale, die klare Rückschlüsse auf einen sexuellen Missbrauch zulassen. Die Reaktionen sind abhängig von verschiedenen Faktoren wie Entwicklungsstand, Alter, Geschlecht und Lebensumstände. Bezugspersonen sollten deshalb darauf achten, ob die betreuten Menschen plötzliche Verhaltens- oder Stimmungsänderungen zeigen.

Reflexionsebenen

Um ein adäquates und professionelles Handeln bei einer Meldung von sexueller Ausbeutung sicher zu stellen, muss sich die Institution bereits vorgängig mit der Thematik rund um sexuelle Ausbeutung auseinandergesetzt haben. Die Zerreißprobe für alle Involvierten im institutionellen Kontext ist immens und der Grat zwischen Bagatellisierung und Dramatisierung schmal. Da die Delikte selten bis nie vor Zeuginnen und Zeugen stattfinden, ist die Suche nach sachdienlichen Informationen und der Umgang damit nur unter permanenten Reflexionsschlaufen in einem überschaubaren Krisenstab möglich. Daher werden in diesem Manual nicht nur die Geschichte skizziert und die thematischen Hintergründe benannt, sondern es wird zusätzlich mit Fragen auf folgenden vier Reflexionsebenen gearbeitet:
Individuelle Ebene (Selbstreflexion)
Beziehungsebene (agogische Handlungen)
Teamebene (Gruppenkultur)
Leitungsebene (Institutionskultur)

Die Publikation bietet nicht nur fachliches Hintergrundwissen, sondern auch praktisch einsetzbare Präventionsbotschaften in leichter Sprache. Diese Kombination macht die vorliegende Publikation einzigartig und als Manual in der Praxis einfach anwendbar.

Corina Elmer, Brigitte Fries, Limita (Hrsg.)
Comic „Alles Liebe?“
2020 | 35 Seiten | Softcover
ISBN 978-3-906036-41-0
€ 23,–

Philipp Gonser, Corina Elmer, Limita (Hrsg.)
Manual „Alles Liebe?“
2020 | 78 Seiten | Softcover
ISBN 978-3-906036-42-7
€ 29,–

Info: www.interact-verlag.ch