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Zwei Frauen lachen in die Kamera und genießen einen sonnigen Tag im Freien. Im Hintergrund sind herbstlich gefärbte Bäume und ein ruhiger See zu sehen. Das Foto strahlt Freude und Freundschaft aus.

Der Self-Directed Support Act erlaubt vielen Menschen mit Behinderung, ein selbstständiges Leben zu führen.

Foto: © AIM Services, Inc.
aus Heft 3-4/2024 – Anderswo
Franz Wolfmayr

John führt ein glückliches Leben mit Trisomie 21

Wie Schottland die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzt
Ich treffe John in einem Kaffeehaus in Edinburgh. Er ist mit Bob, einem seiner Assistenten, gekommen und erzählt, wie er in Edinburgh lebt. Nach 40 Jahren in einer großen „Anstalt für Behinderte“ ist er heute ein „freier Mann“ und glücklich. Die Diagnose Downsyndrom (Trisomie 21) war der Grund, ihn wegzusperren, ausschließlich medizinisch zu „behandeln“ und vom sozialen Leben auszuschließen.

Heute bewohnt John das Obergeschoß eines kleinen Hauses in Edinburgh. Er kocht selbst für ihn lesbare Rezepte (Zutaten für das Menü, das er sich ausgesucht hat, bekommt er täglich geliefert), verbringt den Tag selbstständig, geht in die Stadt, schaut Filme, macht den Haushalt, plant Unternehmungen und trifft sich zum Tee mit der Nachbarin unter ihm. Er verfügt über ein Team von vier Assistent:innen, die ihn insgesamt 20 Stunden pro Woche unterstützen und es ihm ermöglichen, auch seinen Hobbys nachzugehen. Und John unternimmt einiges: Er geht zu Fußballspielen der großen schottischen Klubs, spielt in einem Theater, besucht Musical-Aufführungen und fotografiert. Unterstützung bekommt er durch sein Team: einen Fußballspieler, eine Sängerin, einen guten Hobby-Fotografen und eine Bäckerin. Sie leben in der Nachbarschaft und sind zu seiner Unterstützung bei ENABLE Scotland angestellt.

John erzählt begeistert von diesem Leben, wie er mit Bob, dem Fußballspieler, nach Glasgow zu Spielen von Celtic Glasgow fährt (natürlich im Vereinsleiberl), und von den Musicals, die er schon gesehen hat. Als ich ihn nach seinem Leben in der Anstalt frage, verstummt er. Bob, sein Assistent, sagt, dass er darüber nicht mehr rede. Es sei zu schlimm gewesen. Personen in weißen Kitteln erinnerten ihn an „den bösen Arzt“ dort.

Der Self-Directed Support Act – SDS

Dass John heute selbstständig und glücklich lebt, verdankt er der schottischen Gesetzgebung. Verantwortliche Politiker:innen haben zwischen 1995 und 2008 in Schottland den Prozess der sogenannten Deinstitutionalisierung eingeleitet und finanziert. Die 13 großen Anstalten der Behindertenhilfe („Hospitals“) wurden geschlossen und die Personen wurden mit der notwendigen Unterstützung in Wohnungen in ihren Heimatgemeinden untergebracht. Die größte politische Errungenschaft war 2013 der „Self-Directed Support Act“, das Gesetz zur Bereitstellung selbst organisierter Unterstützung. Diese Gesetze und die eingesetzten staatlichen Budgets haben ausdrücklich das Ziel, ein „gutes Leben“ zu sichern. So wirkt das auch für John. In einem gemeinsamen Planungsverfahren mit einer Sozialarbeiterin der regionalen Behörde wurde erhoben, welche Unterstützung John benötigt, um gesund zu sein, um seinen Alltag gestalten zu können und was er ansonsten zu einem guten Leben braucht (wie z. B. seinen Interessen nachgehen zu können). Dafür wurden 20 Stunden pro Woche in einem Bescheid festgelegt. Die damit verbundenen Budgetmittel werden John als persönliches Budget ausbezahlt. Und John bezahlt damit die Assistenz für sein gutes Leben.

Die Wohnung selbst bezahlt John über eine Grundfinanzierung aus der Sozialhilfe. Es gibt in Schottland Zahlungen für erwachsene Personen mit Beeinträchtigungen, die Finanzierungen für Lebenshaltungskosten und für Mobilität enthalten. John könnte bei Bedarf auch noch weitere Unterstützung für Pflege, Wohnen, Transport und Reisen bekommen.

Langer politischer Weg zum persönlichen Team

Johns Team ist nur für ihn da. Es organisiert sich mit ihm und um ihn herum. John hat es selbst ausgesucht. ENABLE Scotland übernimmt für Personen wie John, sofern sie das wünschen, die notwendige Organisation und Abwicklung und steht beratend zur Seite. John könnte das aber auch selbst machen, wenn er es denn möchte. Da ein so kleines Team sehr flexibel handeln muss, wurden von ENABLE mit der Gewerkschaft besondere arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen vereinbart. Das Besondere an richtiger Deinstitutionalisierung ist ja, dass es keine institutionellen Rahmenbedingungen gibt, wie z. B. Teams, die von ENABLE zentral organisiert werden.

Das hört sich sehr gut an und das ist es auch. Dahinzukommen, war aber ein langer Weg. All das tatsächlich in die Praxis umzusetzen, und zwar unter Beteiligung der Personen, die die Assistenzleistungen und die Haushaltskosten für ihr Leben brauchen, war mühsam. Es scheiterte immer wieder an der nationalen Politik, an lokalen Strategien, an der Komplexität der Verwaltung, an Belastungen und Überlastungen der Gesundheits- und Wohlfahrtsbürokratien, die versuchen, partnerschaftlich zusammenzuarbeiten, und an begrenzten Ressourcen wie Zeit und Geld, wie die Evaluierung „Deinstitutionalisation and Community Services in Greater Glasgow“ im Jahr 1999 aufzeigte.

Bereits 1996 wurden über ein Gesetz Direktzahlungen an Menschen mit Beeinträchtigungen für die notwendige Unterstützung möglich. Das Gesetz wurde im Jahr 2008 unter dem Titel „Counting the cost of Choice and Control: Evidence for the Costs of Self-Directed Support in Scotland“ evaluiert. Damit war der Begriff „Self-Directed Support – SDS“ geprägt.

2010 wurde eine Zehnjahresstrategie mit einem Plan zur Einführung von SDS bis 2018 publiziert, der die folgende Inhalte beschrieb und als Teil des Modells festlegte:

Werte vermitteln

Prozesse (freie Wahl, Selbstkontrolle, Wirkungen)

Verfahren (individuelle Budgets, Direktzahlungen, die Belegschaft)

Verschiebung der Zuständigkeit von den regionalen Behörden zu den Gemeinden

Schottland hat offensichtlich gesellschaftliche Teilhabe aller sowie freie Wahl und freie Entscheidung ernst genommen. Mit dem SDS Act wurde 2013 der logische nächste Schritt getan und sichergestellt, dass notwendige Assistenzleistungen festgelegt werden und die Nutzer:innen voll in die Organisation ihrer Pflege einbezogen werden können. Lokale Behörden sind gesetzlich verpflichtet, Personen, die als sozial- oder pflegebedürftig eingestuft wurden, vier Optionen anzubieten. Am häufigsten wird die Organisation der eigenen Assistenz gewählt und über eine Dienstleistungsorganisation abgewickelt. Das persönliche Budget wird auch über diese Organisation verwaltet und gemeinsam mit der Person abgerechnet.

„Anleitungskompetenz“ über Assistenzmodell sichergestellt

Das Gesetz verpflichtet die lokalen Behörden weiters, diese Entscheidungen aufgrund von ausreichender Information herbeizuführen und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um die Würde der Person und ihre Teilnahme am Leben der Gemeinschaft zu fördern. Die „Anleitungskompetenz“, wie sie in Österreich oft als Voraussetzung genannt wird, wird durch das individuelle Team sichergestellt.

Nach den bisherigen Entwicklungen und gemachten Erfahrungen war klar, was Qualität im neuen Unterstützungsmodell ausmacht:

  • der Respekt vor jeder einzelnen Person und vor deren Menschenrechten, vor der Gleichwertigkeit aller als erwachsene Bürger:innen,
  • das Verständnis, dass es nicht um Menschen „mit besonderen Bedürfnissen“ geht, sondern dass alle Menschen die gleichen menschlichen Bedürfnisse nach Freundschaft, Liebe, Geborgenheit in einer Wohnung, Privatheit, Sicherheit, Geld und Bedeutung haben und
  • die Kompetenz, die richtige Assistenz und das richtige Ausmaß von Leistungen zu geben, mit der sichergestellt werden kann, dass den individuellen Bedürfnissen jeder Person auch wirklich entsprochen wird.

Organisation berät die Bürger:innen mit Assistenzbedarf und den Staat

Zur Umsetzung des SDS-Gesetzes wurde „Self Directed Support Scotland – the organization of choice“ gegründet. Auf ihrer Website1 finden sich viele Informationen über Leben mit Beeinträchtigung in Schottland.

Dieser Verein sorgt auf allen Ebenen für hohe Qualität in der Umsetzung:

  • Er berät selbstständige Dienstleistungsorganisationen und lokale Behörden zu allen Themen des SDS, von den Abläufen bis zum Finden und Finanzieren von Wohnungen,
  • er entwickelt Qualitätshandbücher,
  • er organisiert Schulungen für Organisationen und Personal,
  • er stellt eine Plattform bereit, auf der man sich informieren und austauschen kann,
  • er stellt außerdem eine Plattform bereit, die mit lokalen Möglichkeiten der Beratung und Unterstützung vernetzt und
  • er berät die Regierung in der Verbesserung des Modells.

Die Organisation wird von der schottischen Regierung zu diesem Zweck finanziert, was wiederum zeigt, dass Schottland die Schaffung bestmöglicher Rahmenbedingungen für ein gutes Leben in der Gemeinde ernst nimmt.

Self-Directed Support hat viel erreicht

  • Die Menschen mit Unterstützungsbedarf haben mehr Auswahl und Kontrolle. Sie sind engagiert, informiert, einbezogen und befähigt,  Entscheidungen über ihre Unterstützung zu treffen. Sie werden mit Würde und Respekt behandelt und ihr Beitrag wird wertgeschätzt.
  • Die Beschäftigten sind selbstbewusst und fühlen sich wertgeschätzt. Menschen, die im Gesundheits- und Sozialwesen arbeiten, haben mehr Fähigkeiten, Wissen und Selbstvertrauen, um selbstgesteuerte Unterstützung zu leisten, und verstehen die Auswirkungen auf ihre Gemeinde, die Kultur und ihre Arbeitsweise.
  • Die Auftragsvergabe ist flexibler und reaktionsfähiger. Sozialfürsorgedienstleistungen und -unterstützung werden in einer Weise geplant, in Auftrag gegeben und beschafft, die die Menschen einbezieht und ihnen echte Wahlmöglichkeiten und Flexibilität bei der Erfüllung ihrer persönlichen Ziele bietet. Es gibt keine anonymen Vergabeverfahren, die die betroffenen Menschen – unabhängig davon, ob sie mit den Assistent:innen zufrieden sind oder nicht – einfach akzeptieren müssen.
  • Die Systeme werden besser verstanden, sind flexibler und weniger komplex. Lokale Behörden, Gesundheits- und Sozialpflegepartnerschaften und Anbieter von Sozialpflegeleistungen verfügen über angemessene, personenzentrierte Systeme und partizipative Prozesse, die es den Menschen, die Pflege und Unterstützung erhalten, ermöglichen, ihr Leben zu leben und die Ergebnisse zu erreichen, die für sie wichtig sind.
  • Personen mit Behinderungen tauchen im Alltag der Gemeinden auf und sind durch ihre Assistent:innen aus der Nachbarschaft in das Leben eingebunden.

Wie soll es weitergehen?

Für den Zeitraum von 2023 bis 2027 hat die schottische Regierung einen SDS-Ausbauplan beschlossen. Er wurde unter breiter Beteiligung aller betroffenen Interessengruppen erstellt. Es gibt aber auch widrige Umstände wie den enormen Druck auf das schottische Gesundheits- und Sozialsystem nach Brexit, eine schwierige Arbeitsmarktlage, die das Finden und die Bindung von Arbeitskräften im Sozialwesen und in der Sozialarbeit sehr erschweren, die Krise vieler Menschen, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, sowie eine herausfordernde Budgetsituation. Trotzdem ist es ein ambitionierter und auch realistischer Plan, der sogar die notwendigen Budgets bereitstellt. Er soll eine größtmögliche Wirkung für das Leben der Personen haben, die die Budgets erhalten, und gleichzeitig größtmögliche Flexibilität und Einfachheit in der Nutzung bieten.

Und John?

John lebt ein glückliches Leben. Er hat eine feine Wohnung und eine nette Nachbarin. Er hat keine gesundheitlichen Probleme, die ihn einschränken oder beängstigen. Er hat Assistent:innen, die er mag und die ihn mögen. Er lebt allein in seiner Wohnung und kann sich erproben (Wann stehe ich auf? Was mag ich heute tun, was nicht? Was mag ich essen? Mit wem mag ich mich treffen, oder bleibe ich lieber zu Hause?). Er kann entscheiden, ob er jemand in seine Wohnung lässt oder nicht, denn er ist der Herr im Haus.

Darüber hinaus denkt er an die nähere Zukunft. Er würde gern eine Cousine wiedertreffen, die er schon lange nicht gesehen hat. Sie lebt aber in Südengland. Das bedeutet, er muss reisen oder sie überreden, zu ihm zu kommen.

John würde auch gern einmal in Italien Urlaub machen. Er hat Italien und Venedig in Filmen gesehen. Das heißt sparen und planen. Mit wem könnte er diese Reise machen? Allein traut er sich das nicht zu. Und dann sind da noch der Fußball, das Theater und das Fotografieren.

Autor:

Franz Wolfmayr, Mitbegründer und langjähriger Geschäftsführer der „Chance B Gruppe“ in der Steiermark. Von 2008 bis 2016 Vorsitzender des größten Europäischen Dachverbandes der Behindertenhilfe (EASPD – www.easpd.eu ), Mitbegründer und Gesellschafter beim Zentrum für Sozialwirtschaft GmbH (www.zfsw. at).

franz.wolfmayr@zfsw.at