Gesichter, Augen, Schleifen in Blau-, Rot- und Grüntönen – übereinander und nebeneinander

Rollen, Grafisches Kunstwerk von Eva-Maria Gugg

aus Heft 2/2022 – Fachthema
Ursula Pforr

Die Bedeutung der emotionalen Ebene im Szenischen Verstehen

In dem folgenden Beispiel werde ich ausführlich auf die Gefühlsebene eingehen, die den Verstehensprozess begleitet, weil die Wahrnehmung der Gefühle die Grundlage für Szenisches Verstehen darstellt. Das Beispiel stammt aus der Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten Menschen in einer sogenannten Komplexeinrichtung für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Bei diesem Personenkreis werden in der Regel aus den unterschiedlichsten Gründen Entwicklungspotenziale nicht genutzt. Im Idealfall wird dadurch die Wirkung, die der psychoanalytisch-pädagogische Verstehensansatz haben kann, sehr deutlich sichtbar, weil Veränderungen und Entwicklungsschritte dadurch extrem ausfallen können. In keinem Praxisfeld trifft der Satz „Wer versteht, kann manchmal zaubern“ (Trescher, 1983) vermutlich so häufig zu wie im Behindertenbereich.

Vor 40 Jahren fing ich – übrigens als erste Frau – in einer Wohngruppe mit 14 sogenannten werkstattfähigen Männern an zu arbeiten. Es wurde reglementiert, bestraft, diszipliniert, viel Haldol und Valium verabreicht, gelegentlich auch geschlagen. Das Verhalten der Männer galt als organisch bedingt und somit nicht veränderbar. Ich verfügte bereits über fünf Jahre Heimerfahrung, wenn auch mit Kindern und Jugendlichen. Vieles war identisch. Die Konflikte um Tagesablauf, Aufstehen, Mahlzeiten, Hygiene, Aufgabenerledigen, Gruppenkonflikte – alles war identisch. Bei Kindern sollte auffälliges Verhalten ein Hinweis auf gescheiterte frühe Beziehungserfahrungen oder traumatische Erlebnisse in der Vergangenheit sein, bei geistig Behinderten aber lediglich eine Folge der organischen Schädigung. Das erschien mir unlogisch. Während meines Studiums bei Aloys Leber hatte ich gelernt, auf meine Gefühle zu achten und zu sortieren, woher sie kommen, hatte z.B. gelernt, zwischen Übertragung, Gegenübertragung, Projektion und projektiver Identifizierung zu unterscheiden, und gelernt, mittels Szenischen Verstehens im Idealfall in einen fördernden Dialog treten zu können.

Um 16 Uhr ins Bett

Gleich zu Beginn meines Berufslebens lernte ich den Mann kennen, der sich auf besondere Weise dazu eignete, die verschiedenen Phasen des Verstehensprozesses zu verdeutlichen. Er war damals 32 Jahre alt und befand sich schon 20 Jahre lang in besagter Einrichtung. Seine Diagnose lautete: Symptomatische Epilepsie unklarer Genese mit fortgeschrittener schwerer Wesensänderung und einer Intelligenzschwäche vom Grade einer Debilität bis Imbezillität (IQ ca. 50). Da er in seinem Verhalten extrem auffällig war, hatte man ihn in der Einrichtung in den 20 Jahren von Gruppe zu Gruppe weitergereicht, denn niemand hatte ihn haben wollen. In der ersten Woche bekam ich ihn kaum zu Gesicht, da er nach der Arbeit in der heimeigenen WfbM um 16:00 Uhr sofort zur Strafe in sein Bett geschickt wurde. Von meinen beiden neuen Kollegen erfuhr ich, dass Herr E. äußerst schwierig sei, wegen seines Verhaltens ständig aus der Werkstatt fliege und der endgültige Ausschluss drohe. Auch in der Wohngruppe provoziere er häufig Auseinandersetzungen und werde körperlich aggressiv, auch gegenüber Mitarbeiter:innen. Pädagogische Maßnahmen griffen bei ihm nicht. Aktuell hatte man ihm zur Strafe bereits alles genommen, was ihm wichtig war (seinen Kassettenrekorder mit seiner Kassettensammlung, einen großen Schlüsselbund, auf den er sehr stolz war, usw.) Es blieb nur noch, ihn um 16:00 Uhr direkt ins Bett zu schicken.

In der ersten Woche konnte ich daher nur einen kurzen Blick auf ihn werfen. Vom Äußeren her fand ich ihn eher mitleiderregend. Die Statur eher schmächtig, hängende Schultern und ein trauriger, leidender Gesichtsausdruck. Mehrmals am Tag bekam er psychomotorische epileptische Anfälle. Eines Nachmittags war mein Kollege noch unterwegs, als die Bewohner von der Arbeit kamen. Herr E. stellte sich unschlüssig in meine Nähe und beobachtete wortlos, wie ich von den anderen begrüßt wurde. Recht bald forderten die übrigen Bewohner der Gruppe von mir, Herrn E. wie gewohnt ins Bett zu schicken. Dies löste ziemlich extreme Gefühle bei mir aus. Was würde passieren, wenn ich es versuchte? Würde er ausflippen und auf mich losgehen oder würde er die Anordnung akzeptieren? Und irgendwie war er mir ja auch sympathisch, wie er da so ruhig und leidend, von allen abgelehnt, stand. Aber in meiner Fantasie verwandelte er sich in eine tobende Bestie, sollte ich versuchen diese – von mir innerlich übrigens abgelehnte – Erziehungsmaßnahme durchzusetzen.

An dieser Stelle wird bereits deutlich, wie wichtig es ist, bei den wahrgenommenen Gefühlen zu differenzieren, woher sie kommen. Man muss zwischen den Gefühlen und Gemütszuständen des Gegenübers und den eigenen Projektionen unbedingt unterscheiden. Bei Herrn E. wurde in extremer Weise nicht auf seine aktuelle emotionale Verfassung, sondern auf das Bild, das man von ihm hatte, reagiert. Auch ich reagierte nicht empathisch auf seine aktuelle Gemütsverfassung, die sehr friedlich war, sondern auf meine eigenen Projektionen, die durch die Erzählungen der Kollegen ausgelöst worden waren. In der beschriebenen Szene redete ich mich damit heraus, dass ich noch zu neu sei und nicht genau wisse, was getan werden müsse, man solle auf meinen Kollegen warten. Und so durfte Herr E. in meiner Nähe stehen bleiben.

Nähe und Distanz

Am Wochenende kam es dann zu einer denkwürdigen Szene zwischen Herrn E. und meinem Kollegen. Herr E. wollte ihm etwas sagen und trat dazu sehr dicht (auf eine halbe Armlänge) an ihn heran. Mein Kollege wehrte diese Nähe ab und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm auf Distanz. Darauf sagte Herr E. (noch ruhig): „He“, was meinen Kollegen, mir unverständlich, wütend machte. Er schob Herrn E. noch weiter von sich, worauf dieser erneut, nun empört, „He!“ sagte. Nun verlangte mein Kollege wütend von Herrn E., trotz Wochenendes, dass er sofort ins Bett gehe. Herr E. wandte sich zwar zum Gehen, bezeichnete meinen Kollegen dabei jedoch als „blöde Sau“, was diesen vollends auf die Palme brachte. Das Ganze endete in einer kurzen körperlichen Auseinandersetzung.

In dieser Szene deutet sich ein Thema an, das eigentlich in allen pädagogischen Bereichen unterschätzt wird. Die Frage von Nähe und Distanz und dem optimalen – räumlichen – Abstand. Bei kleinen Kindern kennen wir alle das Phänomen: Wollen sie uns etwas Wichtiges sagen, so kommen sie ganz dicht an uns heran, setzen sich auf den Schoß, schlingen die Arme um unseren Hals oder Ähnliches. Suchen aber auf jeden Fall Körperkontakt. Das andere Extrem sind Psychotiker, wo schon der normale zwischenmenschliche Abstand bei einer Konversation als übergriffige Nähe aufgefasst werden kann. Wie groß ist z.B. der optimale Abstand, um einem pubertierenden Jugendlichen seine Grenzen aufzuzeigen? Ist er zu groß, verpufft die Rede wirkungslos, ist er zu eng, provoziert er Widerstand. Es lohnt sich, auf seine Gefühle in entsprechenden Situationen zu achten und zu versuchen, zwischen den eigenen Gefühlen und denen des Gegenübers zu differenzieren.

Herr E. befand sich in einem entwicklungspsychologischen Alter, in dem er für ihn bedeutsame Dinge nur bei gleichzeitigem Körperkontakt äußern konnte. Bei mir sollte er dazu später immer seine Hand auf meine Schulter legen. Häufig schaute er mir dabei tief in die Augen, was der Situation eine gewisse Intimität verlieh. In seiner Akte wurde vor Körperkontakt zu Herrn E. gewarnt. Er versuche sich bei Mitarbeiter:innen „lieb Kind“ zu machen, auch durch Schmusen. Bei Frauen versuche er, an verbotene Körperstellen zu greifen, und mache obszöne Bemerkungen. Diese Akte wurde von mir im Übrigen nicht gezielt eingesehen, sie lag wie zufällig mit der entsprechenden Seite geöffnet auf dem Schreibtisch des für Herrn E. zuständigen WfbM-Mitarbeiters, als ich dort meinen Antrittsbesuch machte.

Die ersten Tage verbrachte ich zum Einarbeiten noch in Doppeldiensten und konnte das Geschehen um Herrn E. aus der Distanz beobachten. Er nutzte eigentlich jede Gelegenheit zur Provokation, sei es, dass er morgens nicht freiwillig aufstand, sondern wartete, bis man ihn wütend aus dem Bett warf, oder dass er grundsätzlich zu spät zum Essen kam, was häufig dazu führte, dass er als Strafe nichts mehr zu essen bekam. Immer wieder versuchte er einfach mit auffälligem Verhalten zu nerven. Die Szenen endeten immer wieder in verbalen oder körperlichen Auseinandersetzungen.

Super-GAU der Pädagogik

Es war klar, dass ich bei meinem ersten Alleindienst große Probleme mit ihm bekommen würde. Er würde auch mich in entsprechende Szenen verwickeln. Da kündigte sich so etwas wie der Super-GAU der Pädagogik an. Da war ein Mensch, den ich kaum kannte, von dem ich aber wusste, dass er mich so lange provozieren würde, bis ich ausraste. Reden würde nichts nutzen. Appelle an seine Vernunft, Fragen nach dem Sinn seines Verhaltens oder Bitten, damit aufzuhören, würden ihn eher noch dazu motivieren, weiterzumachen, da es ihm zeigen würde, auf dem richtigen Weg zu sein. Ich hatte keine Idee, wie ich ihn eingrenzen könnte. Die Methode meiner beiden männlichen Kollegen, dies nötigenfalls mit körperlicher Gewalt zu tun, kam für mich natürlich nicht infrage. Meine Kollegen machten sich wohl auch entsprechende Sorgen, denn sie organisierten einen anderen Bewohner der Gruppe zu meinem Schutz. Es handelte sich um den ranghöchsten Bewohner der Gruppe, vor dem Herr E. Respekt und Angst hatte, da er von ihm gelegentlich auch geschlagen wurde.

Ich hoffe, dass es mir bis hierhin gelungen ist, Ihnen die emotionale Ebene der Situation näherzubringen und Sie sich gefühlsmäßig etwas einlassen konnten. In mir herrschten extreme Gefühle von Angst, Panik, Verzweiflung, Ohnmacht und natürlich auch Gedanken an Flucht. Wieso sollte ich mir das eigentlich antun? Wie um Himmels willen war ich auf die Schnapsidee gekommen, im Behindertenbereich arbeiten zu wollen? Ein bisschen wurde aber auch mein pädagogischer Ehrgeiz geweckt. Wer bei Leber studiert hat, weiß, dass man von ihm auch eine kleine Portion Größenwahn mit ins Gepäck bekommt. Alles ist verstehbar und damit auch lösbar, wenn man sich nur intensiv genug darauf einlässt. Daran mag man in der Praxis gelegentlich scheitern, aber in der Theorie ist es möglich. Ich beschloss also, mich einzulassen. Meine einzige Chance sah ich darin, eine tragfähige Betreuungsbeziehung zu ihm aufzubauen. Und es war auch klar, dass ich nicht viel Zeit dafür haben würde. Ich konnte nicht warten, bis diese Betreuungsbeziehung von alleine wachsen würde. Und schon nach wenigen Tagen ergab sich zu meinem Glück eine Gelegenheit dazu.
Aufbau einer tragfähigen Betreuungsbeziehung

Ihm waren bei einer Auseinandersetzung zwei Zähne ausgeschlagen worden. Hierfür wurden aber nicht die Schläger bestraft, sondern er, weil er die beiden schließlich provoziert habe. Außerdem kam niemand auf die Idee, mit ihm zum Zahnarzt zu gehen. Dies übernahm ich. Mein erster Kontakt zu Herrn E. bestand also in gemeinsamen Zahnarztbesuchen. Hierdurch konnte ich mich ihm gegenüber zum einen fürsorglich zeigen und zum anderen bedeutete dies lange, exklusive Betreuungstermine, an denen er mich für sich alleine hatte. Dies bedeutete Herrn E. sehr viel und zunächst reagierte er auch ausgesprochen positiv. Er wich bei meinen Diensten kaum noch von meiner Seite, suchte viel Körperkontakt (beim Sitzen berührten sich unsere Arme, beim Reden legte er seine Hand auf meine Schulter), ohne jedoch, wie in der Akte erwähnt, zu weit zu gehen. Hatte ich Dienst, so wirkte seine Stimmung ausgeglichen, er suchte keinen Streit mit den anderen, erschien pünktlich zum Essen usw.

In unserem Umfeld wurde diese Veränderung jedoch nicht erfreut zur Kenntnis genommen. Ganz im Gegenteil, ich brachte zusehends die ganze Gruppe und meine Kollegen gegen mich auf. Man warnte mich eindringlich und der zu meinem Schutz abgestellte Bewohner verkündete, er freue sich schon auf den Tag, an dem ich von dem E. eins auf die Fresse bekäme, dann würde er sich danebenstellen und laut lachen. Jetzt hatte ich also auch noch meinen Bodyguard verloren. Vom Schulleiter der heimeigenen HEP-Schule wurde ich darüber aufgeklärt, dass es sich bei Herrn E.s Verhalten um Prodromalerscheinungen seines Anfallsleidens handele, d. h. er sich ständig in der Vorphase eines Anfalls befände. Damit wollte er mir verdeutlichen, dass Herrn E.s Verhalten rein organisch bedingt sei. Wenn jemand glaube, bei ihm etwas ändern zu können, sei er gewaltig auf dem Holzweg.

Diese massive Kritik verunsicherte mich zusehends. Jedes Mal, wenn mich Herr E. anfasste, fiel mir die Aktennotiz ein. Machte ich vielleicht doch einen Fehler? Die Akte begann, sich zwischen uns zu schieben. Auch die Gruppe machte mir Sorgen. War es gerechtfertigt, sie nur wegen Herrn E. so in Aufruhr zu versetzen? Schließlich ging auch noch eine Beschwerde über mich ein. Ich sei dabei beobachtet worden, wie ich „Arm in Arm“ mit Herrn E. übers Gelände gelaufen sei. Dieser Vorwurf war maßlos übertrieben. Auf dem Weg zum Zahnarzt hatte Herr E. nur gut gelaunt seinen Arm auf meine Schulter gelegt, um mir etwas Besonderes mitteilen zu können. Bedachte man, dass sich das Verhältnis zahlreicher Mitarbeiter:innen zu den Bewohnern durch völlige Distanzlosigkeit auszeichnete – bis hin zum „Auf-den-Schoß-Nehmen“ und „Abküssen“ –, so wurde völlig unklar, was das Arm-auf-die-Schulter-Legen so verwerflich machte.

Inszenierung der Einrichtung

Hier wird schon deutlich, dass eine große Inszenierung im Gange war, die die ganze Einrichtung erfasst hatte, weil Herr E. durch seine häufigen Wechsel auch überall und jedem bekannt war. An dieser Stelle möchte ich jedoch nicht darauf eingehen, welche Rolle Herr E. für die Einrichtung spielte, was auch ein spannendes Thema wäre, sondern mich darauf konzentrieren, was Herr E. mit seinem Verhalten – ohne Worte – mitteilen wollte. Durch die ständige Wiederholung konflikthafter Szenen wurde schon bald deutlich, dass sich irgendein verborgener Sinn dahinter verbergen musste. Meine ruhige Zeit mit Herrn E. währte nicht lange. Der ungewöhnliche Start hatte aber zumindest ein erstes, wenn auch noch brüchiges Fundament gelegt. Nach etwa zwei Wochen begann er aber, auch mich systematisch zu provozieren. Mehrmals täglich wurde ich Wechselbädern von Gefühlen ausgesetzt. Auf der einen Seite war Herr E. sehr freundlich, anhänglich, ruhig und ausgeglichen. Plötzlich jedoch konnte er völlig ausflippen. Er hampelte herum, zog Grimassen und schrie in hohen Tönen wirres Zeug. Reichte dies für eine Reaktion meinerseits noch nicht aus, so kam er ganz dicht an mich heran, zog seine Grimassen direkt vor meinem Gesicht, schrie mir ins Ohr und begann, mich zu begrapschen. Reichte auch das noch nicht, so versuchte er etwa, meinen Daumen umzubiegen oder mich an den Haaren zu ziehen. Er kam erst zur Ruhe, wenn ich ausflippte, ihn anschrie und aus dem Zimmer warf oder selber den Raum verließ. Kurz darauf kam er dann ruhig und vernünftig zurück, um sich wieder mit mir zu versöhnen. Wenig später begann das Spiel dann von Neuem.

Die Identifizierung einer Szene

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich die Szene erkannte. Ausflippen und Versöhnen gehörten untrennbar zusammen. Meine Kollegen verweigerten jedoch regelmäßig das Versöhnen, weil sie dann noch zu wütend waren und außerdem versuchten, pädagogisch zu reagieren (Fehlverhalten muss eine Strafe nach sich ziehen). Ich dagegen zeigte mich immer für eine Versöhnung bereit. Es gab auch den richtigen Zeitpunkt zum Reagieren. Griff ich zu früh ein, um sein Ausflippen zu beenden, so bewirkte mein Anschreien gar nichts. Er bemerkte wohl, dass ich nicht wirklich wütend war. Wartete ich jedoch zu lange, dann war ich so wütend und mit den Nerven am Ende, dass ich mich nicht mehr richtig versöhnen konnte. An diesem Beispiel wird sehr schön deutlich, dass Szenisches Verstehen zunächst darin besteht, Stimmungslagen des Gegenübers empathisch wahrzunehmen und auf der emotionalen Ebene angemessen zu reagieren. Und nicht etwa auf die eigene Gefühlslage. Herr E. provozierte Ablehnung, er wollte deutlich spüren, dass sein Gegenüber wütend auf ihn wurde. Also war es wichtig, ihm dies auch deutlich zu zeigen. Gleichzeitig gab es aber auch eine große Sehnsucht nach Versöhnung, Nähe und schon fast symbiotischer Verschmelzung. Ich hatte zwar noch keine Idee, warum er dies inszenierte, spielte aber bereitwillig in der Szene mit und gab die gewünschten Antworten auf der emotionalen Ebene.

Szenisches Verstehen

Dass ich das Geschehen in meinen Überlegungen als Szene isolierte, half mir dabei, nicht in den Inszenierungen zu versinken und nur noch blind zu agieren wie meine Kollegen. Ich musste seine Angriffe auch nicht persönlich nehmen, sie galten ja irgendeinem mir noch unbekannten und unbewältigten Konflikt aus der Vergangenheit. Es ist schon viel gewonnen, wenn man in dem Geschehen eine Szene erkennen und isolieren kann. Zunächst zeichnen sich extreme pädagogische Situationen ja dadurch aus, dass man sich hilflos und ohnmächtig unterschiedlichsten Gefühlen ausgesetzt fühlt, ohne jede Idee, warum das jetzt passiert, wie man es vermeiden und wie man die Situation in den Griff bekommen könnte. Als Selbstschutz bleibt dann häufig nur, den Störer auszugrenzen (z.B. wie in der Einrichtung, auf die nächste Gruppe im nächsten Haus abzuschieben). Gerspach hat dies in seinem Buch „Wohin mit den Störern?“ (1998) sehr schön ausgeführt.

Spielt man dagegen in einer Szene mit, dann ist das Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein nicht mehr so extrem. Man gestaltet ja aktiv mit. Die emotionale Belastung ist allerdings immer noch extrem. Man hat nicht das Gefühl, die Situation im Griff zu haben. Nachdem ich die Szene erkannt und den richtigen Zeitpunkt zum Reagieren gelernt hatte (ein Prozess von mehreren Monaten), wurde schließlich nach und nach ein Spiel aus diesen Szenen, die ihre Bedrohlichkeit verloren hatten. Beide Seiten wussten ja, dass im Anschluss an das Ausflippen die Versöhnung folgen würde. Bei den anderen Bewohner:innen der Gruppe, meinen beiden Kollegen, den Eltern und in der WfbM konnte er mit seinem Verhalten aber immer noch extreme Reaktionen auslösen. Häufig wurde er geschlagen oder sogar verprügelt. Aus der aktuellen Situation heraus war sein Verhalten nicht verstehbar. Erst ein Blick in die Familiengeschichte macht deutlich, worum es in den Szenen gehen könnte.

Familiengeschichte

Nach ca. 6 Wochen lernte ich die Eltern kennen, die ihren Sohn für ein Besuchswochenende abholten. Sie waren mir als sehr nett beschrieben worden; vor allem Frau E. habe so einen missratenen Sohn nicht verdient, unter dem sie auch sehr leide. Auch ich lernte Frau E. als sehr sympathische Frau mittleren Alters kennen, die sich sehr darüber freute, dass ihr Sohn endlich jemanden gefunden habe, der sich für ihn einsetze.

Im Laufe der Monate erfuhr ich über die Familiengeschichte, dass die Mutter aus einem streng katholischen Elternhaus stammte und bereits mit 17 Jahren Mutter geworden war, was bei mir die Fantasie eines großen Familiendramas auslöste (1950!). Mit 5 ½ Monaten hatte Herr E. seinen ersten epileptischen Anfall bekommen, sich ansonsten aber zunächst unauffällig entwickelt. Nach 7 Jahren bekam er eine gesunde Schwester. Aufgrund seiner Epilepsie (mehrere Anfälle pro Tag) wurde er zwei Jahre vom Schulbesuch zurückgestellt und schließlich in eine Sonderschule eingeschult. Wegen zunehmender Aggressionen gegenüber seiner Schwester und in der Schule kam er mit 12 Jahren ins Heim. Auch dort fiel er von Anfang an durch extrem aggressives Verhalten auf. Dies versuchte man ohne Erfolg mit Valium und Haldol in den Griff zu bekommen.

Die Hol- und Bringsituationen an den Besuchswochenenden entwickelten sich zwischen den Eltern und mir im Laufe der Zeit auf etwas merkwürdige Weise. Oberflächlich verliefen die Begrüßungen sehr herzlich und alle freuten sich über das Wiedersehen. Auf der Gefühlsebene entstanden aber immer wieder Irritationen. So passierte es z.B. immer wieder, dass die Eltern in der Bringsituation Herrn E. irgendwie im Weg standen, wenn er versuchte, mich zu begrüßen. Auch zwischen mir und den Eltern schien eine unbewusste Inszenierung im Gange zu sein, die ich nicht verstand. Ihre Ambivalenz wurde auf einer Weihnachtskarte noch einmal sehr deutlich, auf der sie sich für die „lb“ bedankten, die ich ihrem Sohn entgegenbringe. Das Wort war nicht aus Platzmangel abgekürzt und ich benötigte eine Weile, bis ich dem Textzusammenhang entnommen hatte, dass sie mit „lb“ offensichtlich Liebe gemeint hatten. Bevor ich mit der Familiengeschichte fortfahre, möchte ich aber zunächst eine Szene schildern, die sich im Zusammenhang mit dem bereits beschriebenen wiederholten Ausflippen ereignete.

Fortschritte im Szenischen Verstehen

Mittlerweile war ich in meinem Szenischen Verstehen ja schon weit fortgeschritten. Ich hatte eine Szene isolieren können, ansatzweise verstanden, worum es in der Szene ging, und gelernt, in angemessener Weise mitzuspielen. Das war aber natürlich noch nicht die Lösung. Ziel sollte ja die Auflösung der Szene sein und dass Herr E. das verborgene Thema der Szene nicht mehr agieren müsste. Diese Auflösung kann auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen. Eine Möglichkeit besteht z. B. darin, einmal nicht in der gewohnten Weise zu reagieren. Das macht natürlich erst Sinn, wenn man lange Zeit in der erwarteten Weise reagiert hat. Bei Herrn E. war ich noch weit von einer Lösung entfernt. Mithilfe einer ungewohnten Reaktion innerhalb der Szene erhoffte ich mir aber neue Erkenntnisse.

Eines Tages hatte ich mir vorgenommen, als Reaktion auf sein Verhalten einmal nicht wie erwartet wütend zu werden, sondern abzuwarten, was passierte, wenn man ihn nicht unterbrach. Ich ging also mit ihm in sein Zimmer und ließ ihn toben. Sein „Anfall“ verlief zwar wellenförmig, wurde insgesamt aber immer heftiger. Er versuchte, mir den Arm herumzudrehen, schrie und sprang herum. Zwischendurch setzte er sich auf sein Bett, zog nur Grimassen und redete wirres Zeug. Schließlich nannte er mich eine dumme Gans. Ich fragte darauf: „Wieso, weil ich mir das alles gefallen lasse?“ Er nickte zustimmend. Ich fragte weiter, ob er so jemanden wie sich nicht mögen würde. Darauf antwortete er zunächst lange nichts und schließlich zögernd: „Doch“, worauf ich „Na siehst du“ sagte. Nun folgte eine noch längere Pause, dann zeigte er plötzlich auf das Bild seines Opas, das über seinem Bett an der Wand hing, und meinte: „Der schaut dich an und ist böse auf dich.“

Der strafende Blick

Von diesem Tag an sollte der bereits verstorbene Großvater eine bedeutende Rolle in meiner Beziehung zu Herrn E. spielen. Das Bild zeigte einen älteren Herrn, der mit einem strengen, vorwurfsvollen und irgendwie strafenden Blick auf einen herabschaute. Ich nahm den Blick damals als Vorwurf, dass ich auf diese Weise mit seinem Enkel umging. Auf jeden Fall fühlte ich mich von diesem Tag an beobachtet, wenn ich mich bei Herrn E. im Zimmer befand. Jetzt fiel mir auch auf, wie oft Herr E. das Bild betrachtete und während unseren Gesprächen daran herumspielte. Bei unserer normalen Sitzposition hatte er es voll im Blick, während ich es nur aus den Augenwinkeln heraus wahrnehmen konnte. Im Laufe unserer Beziehung sollte es seine Position jedoch verändern, sodass er es während einer bestimmten Phase im Rücken, ich dagegen voll im Blick hatte.

Doch zunächst noch einmal zurück zur Familiengeschichte. Interessant daran ist, dass sich die Geschichte innerhalb der Familie noch einmal exakt wiederholte. Auch die 7 Jahre jüngere Schwester von Herrn E. bekam mit 17 Jahren einen Sohn, der ebenfalls an einer Epilepsie litt, und sieben Jahre später ebenfalls eine gesunde Tochter. Vor dieser Schwangerschaft wurde übrigens bei Herrn E. und seinem Neffen abgeklärt, ob es sich um eine genetisch bedingte Form der Epilepsie handele. Bei beiden fand sich keine entsprechende Disposition. Auch der Neffe entwickelte sich in seinem Verhalten extrem auffällig und musste ebenfalls mit 12 Jahren in ein Heim gegeben werden. Diese Details der Familiengeschichte lösten in Verbindung mit dem Bild des Großvaters einige neue Fantasien in mir aus. Die Mutter hatte, aus einem streng katholischen Elternhaus stammend, die Epilepsie ihres Sohnes vermutlich als Buße für ihren Fehltritt aufgefasst. Noch heute opferte sie sich reumütig auf und litt still unter dieser Buße. Häufig kümmerte sie sich auch um ihren behinderten Enkel und die erblindete Mutter. Jeder bedauerte die arme Frau, die nie Zeit für sich hatte und ihr schweres Los so tapfer trug.

Jetzt wurde mir auch klar, welche ambivalenten Gefühle Herr E. durch sein Verhalten aufdecken wollte. Seine Mutter war durch seine Geburt in eine extreme Lebenssituation geraten. Ihr eigenes Geburtsjahr (1933) löste in mir die Fantasie eines Nazivaters aus, der 1950 von seiner Tochter extrem enttäuscht gewesen sein und sich ihr gegenüber entsprechend verhalten haben musste. Als gläubige Katholikin ertrug sie ihre Buße aber klaglos und ließ sich nie gehen. Deswegen testete Herr E. mich immer wieder aufs Neue und zweifelte immer wieder auch an der Echtheit meiner Gefühle, hoffte aber gleichzeitig auf die Versöhnung. Nach Leber (Leber, 1988) beinhaltet eine Szene neben der Wiederholung früher Erfahrungen und Beziehungsmuster immer auch die Hoffnung auf eine nachträgliche Wiedergutmachung und Bewältigung.

Die exakte Wiederholung des Dramas bei der Tochter zeigte mir die Bedeutung, die dem Fehltritt in der Familie zukam. Der strafende Arm (bzw. Blick) des Vaters reichte bis in die dritte Generation. Über welche Ausstrahlung dieser Mann verfügte, hatte ich ja bereits am eigenen Leib erfahren. In der Phase, als das Bild hinter Herrn E. hing, brachte mich der Blick dieses Mannes so aus dem Konzept, dass ich kaum noch in der Lage war, angemessen auf Herrn E. einzugehen. Dieser Blick erinnerte die Mutter sicher ständig an ihren Fehltritt und erschwerte eine Einigung zwischen ihr und ihrem Sohn.

Einführung von Sprache als Alternative zur Aktion

Jetzt hatte ich zwar die Szene verstanden und konnte angemessen reagieren, doch von der Auflösung waren wir immer noch weit entfernt. Trotzdem war schon viel gewonnen. Hat man es erst einmal geschafft, eine stabile Betreuungsbeziehung aufzubauen und spezifische Inszenierungen zu erkennen und zu isolieren, hat man schon sehr viel erreicht. Das Bedrohliche der Situation ist verschwunden, ebenso die Ohnmachtsgefühle. Man weiß jetzt, wie man mit der Situation umgehen kann. Emotional belastend sind die Szenen allerdings immer noch. Es bestehen verschiedene Möglichkeiten, wie es an dieser Stelle weitergehen könnte. Im Behindertenbereich, insbesondere im stationären Bereich, ist es allerdings grundsätzlich schwierig, Entwicklung über diesen Punkt hinaus zu gestalten, weil dies den Aufbau reifer psychischer Strukturen voraussetzen würde. Psychische Entwicklung bis hin zu einer unabhängigen, selbstbewussten, erwachsenen psychischen Struktur ist im Behindertenbereich aber nicht vorgesehen. Aber auch das ist ein anderes Thema.

Wie ging es bei Herrn E. weiter? Bisher befand er sich immer noch – im Phasenmodell von Mahler (1979) gesprochen – in der symbiotischen Phase und ein Thematisieren seines Verhaltens war nicht möglich. Dies sollte sich während einer zweiwöchigen Gruppenfreizeit ändern. Im normalen Gruppenalltag hatte ich keine Chance gehabt, seine enormen symbiotischen Bedürfnisse zu befriedigen. Er klebte förmlich an mir, aber nach 7,5 Stunden musste er sich wieder von mir trennen, und es gab Tage, an denen er mich überhaupt nicht sah. In der Freizeit stand ich ihm plötzlich rund um die Uhr zur Verfügung. Bei auftretenden Konflikten musste er nun nicht mehr warten, sondern konnte sich sofort an mich wenden. Nach ein paar Tagen war er sich meiner Person dann offensichtlich so sicher, dass meine Anwesenheit in problematischen Situationen gar nicht mehr unbedingt erforderlich war. Häufig reichte es nun aus, wenn er sich in solchen Situationen in mein „Zimmer“ (als einzige weibliche Person hatte ich in der Gruppenunterkunft einen persönlichen Rückzugsraum) zurückziehen konnte. Hier konnte er sich sogar beruhigen, ohne dass ich anwesend sein musste.

Auf dieser neuen Basis wurde ein entscheidender Entwicklungsschritt in Bezug auf sein anfallartiges Ausflippen möglich. Erstmals konnte ich mit ihm darüber reden. Dabei entstand auch das Wort „Rappel“ für sein extremes Verhalten, das ab diesem Zeitpunkt von uns beiden benutzt wurde. Dieses Einführen von Sprache markiert einen ganz wichtigen Entwicklungsschritt, weil es eine zusätzliche Distanz schafft. Ab diesem Zeitpunkt wurde Reden statt Agieren möglich. Während früher nichts das Kommen dieses Ausflippens hatte verhindern können, wurde jetzt ein zeitliches Aufschieben möglich. In der Freizeit konnten wir dadurch erstmals beruhigt mit Herrn E. in ein Restaurant gehen, ohne einen peinlichen Zwischenfall befürchten zu müssen. Als er begann, rappelig zu werden, konnte ich ihn bitten, jetzt keinen Rappel vor all den Leuten zu bekommen, sondern damit zu warten, bis wir wieder alleine zu Hause wären. An das Versprechen, zu Hause einen Rappel bekommen zu dürfen, hielt ich mich auch strikt. Dort liefen sie dann auch in gewohnter Weise ab.

Zurück in der Einrichtung überschlugen sich förmlich die Ereignisse. Die Rappel wurden immer seltener und außerdem nur noch bei mir ausgetragen. Er arbeitete vorbildlich in der WfbM und war selber stolz auf seine Wandlung. Gelegentlich sprach er von dem alten E., der immer noch in Ulm auf dem Münster stünde (in der Nähe von Ulm hatte die Freizeit stattgefunden) und den wir dort gegen den neuen E. eingetauscht hätten. Krisensituationen konnten dadurch gelöst werden, dass man andeutete, mal wieder aufs Ulmer Münster fahren zu müssen. In dieser Phase verschwand auch das Bild vom Opa an der Wand. Der Aufhänger war abgebrochen und wurde nicht repariert.

Von der Übungsphase zur Wiederannäherungskrise

Herr E. befand sich ganz offensichtlich in der Übungsphase. Er benötigte kaum noch meine Hilfe, um aus seinen selten gewordenen Rappeln zu kommen. Er beruhigte sich schnell und von alleine, meistens, indem er sich selber eine Ablenkung suchte. Ich bekam die Möglichkeit, seine Rappel nicht nur zeitlich zu verschieben, sondern ganz zu verhindern. Wenn ich bemerkte, dass er unruhiger wurde, brauchte ich ihn nur zu warnen, dass er gleich wieder „abheben“ würde, um ihn zu beruhigen. Dieselbe Möglichkeit bestand übrigens auch bei seinen Anfällen. Wenn ich rechtzeitig das Kommen eines Anfalls an seinem veränderten Verhalten bemerkte, konnte ich den Anfall verhindern, indem ich ihn davor warnte. Unsere Gespräche drehten sich nun oft um das Thema, ob er gerade 10 Zentimeter über dem Boden schwebe oder schon wieder gelandet sei. Durch die Zentimeter erhielten wir einen Maßstab für den Grad seiner Erregung. Je aufgeregter er war, desto höher schwebte er (in Zentimeter).

Das Geschehen in Worte fassen zu können (nicht deuten, sondern lediglich Dinge benennen) bedeutet eine enorme Entlastung, weil nicht mehr einfach agiert werden muss. Es ist viel damit gewonnen, das Problem benennen und mit dem Klienten darüber sprechen zu können. Damit ist das Problem zwar noch nicht gelöst, aber es hat einen Teil seiner zerstörerischen Kraft verloren. An dieser Stelle endete leider aber auch die erfreuliche Entwicklung bei Herrn E. Wer Mahler kennt, weiß, dass nach der Übungsphase die Wiederannäherungskrise kommt. Im Behindertenbereich wird diese Phase in der Regel als Bestätigung der organischen Bedingtheit von Verhalten angesehen. Man erkennt in dieser Phase nicht den weiteren Fortschritt, sondern glaubt an die Durchsetzung des Grundsätzlichen der organischen Behinderung. Auch bei Herrn E. ging die Übungsphase zu Ende und er geriet in eine schwere Wiederannäherungskrise. Und auch der Druck von außen nahm bedenklich zu. Besonders mein Kollege in der Gruppe begann, ihn ständig zu sticheln und zu provozieren. Schließlich vergaß er sogar gelegentlich, ihn morgens zu wecken, sodass er zu spät zur Arbeit kam und dort Probleme bekam. Das ist eigentlich ein unglaublicher Vorgang. Der Frühdienst einer Wohngruppe weckt einen Bewohner nicht, damit dieser Ärger bei der Arbeit bekommt. Dies hing mit der eingangs erwähnten Rolle von Herrn E. für die gesamte Einrichtung zusammen. Er durfte sich einfach nicht positiv entwickeln.

Der zu enge Rahmen der Einrichtung

Herrn E.s Verhalten wurde sehr widersprüchlich. Auf der einen Seite zeigte er sich sehr reif und vernünftig. So löste er z.B. das Weckproblem, indem er die Nachtwache bat, ihn zu wecken. Erstmals tauchte auch der Gedanke auf, einmal außerhalb des Heimes zu leben, ein Gedanke, der früher undenkbar gewesen wäre. Auf der anderen Seite war er aber wieder häufiger auf meine Vermittlungen angewiesen, weil er sich sehr unreif und kindisch verhielt. Verkompliziert wurde das ganze durch den Opa, der plötzlich wieder an der Wand hing, diesmal hinter ihm, was mich extrem verunsicherte. Erst spät verstand ich, dass er dort quasi als Rückendeckung hing, weil er Angst hatte, wieder in die enge Symbiose mit mir zurückzufallen. Dies verdeutlichte mir auch noch einmal die Funktion des Großvaters in der Familie. Er hatte damals die symbiotische Einigung zwischen Mutter und Sohn verhindert. Die insgesamt unerfreuliche Entwicklung verdeutlichte mir aber auch, dass eine Entwicklung innerhalb der Einrichtung grundsätzlich nur in sehr begrenztem Rahmen möglich sein würde. Wirkliche Fortschritte sind nur außerhalb möglich. Als Konsequenz daraus verließ ich diese Gruppe und begann zunächst mit dem Aufbau eines Außenwohnbereichs für die Einrichtung. Aber auch dort musste ich feststellen, dass der enge Rahmen einer stationären Einrichtung die Entwicklung reifer psychischer Strukturen systematisch verhindert. Nach dieser Erkenntnis gründete ich einen eigenen Verein für die ambulante Unterstützung dieses Personenkreises und verließ die Einrichtung.

Herr E. durfte mir auf diesem Weg nicht folgen, er galt als zu schwer behindert. Ich war damals selber noch unsicher, was im ambulanten Rahmen möglich sein würde. Heute bin ich mir sicher, dass auch er im Rahmen des Betreuten Wohnens in einer eigenen Wohnung hätte leben können. Aber sowohl seine Familie als auch die Einrichtung hätten einen Wechsel ohnehin nie zugelassen. Und so lebt Herr E. bis heute in dieser Einrichtung, das Grundsätzliche der Problematik ist geblieben, dem Geschehen ist seither aber immerhin die Spitze (auf beiden Seiten) genommen. Ich habe dieses Beispiel auch nur deshalb gewählt, weil ich finde, dass daran sehr deutlich wird, worum es mir in diesem Beitrag geht. In extremen pädagogischen Situationen hilft es nur, sich intensiv auf die emotionale Ebene einzulassen. Meine Beziehung zu ihm wäre genauso dramatisch verlaufen wie die meiner Kollegen, wenn ich mich nicht bewusst auf die Suche nach der Inszenierung und nach dem unbewussten Sinn dahinter gemacht hätte. Die Einführung in Sprache nahm dem Verhalten dann endgültig seine Bedrohlichkeit. Das war im Übrigen etwas, was man Herrn E. nicht mehr nehmen konnte. Durch die Einführung in Sprache hatte er eine gewisse Kontrolle über sein Verhalten bekommen, weil er nun bewusst darüber nachdenken konnte. Dass er dies nicht immer nutzt, ist ein anderes Thema.

Literatur

Gerspach, M. (1998): Wohin mit den Störern? Zur Sozialpädagogik der Verhaltensauffälligen. Stuttgart: Kohlhammer.

Leber, A. (1988): Zur Begründung des fördernden Dialogs in der psychoanalytischen Heilpädagogik. In: Iben, G. (Hrsg.): Das Dialogische in der Heilpädagogik. Mainz: Grünewald, 41–61.

Mahler, M. (1979): Symbiose und Individuation. Stuttgart: Klett-Cotta.

Trescher, H.-G. (1983): Wer versteht, kann (manchmal) zaubern. In: Leber, Aloys et al. (Hrsg.), Reproduktion der frühen Erfahrung. Frankfurt: Fachbuchhandlung für Psychologie – Verlagsabteilung, 197–211

Autorin:

Ursula Pforr, Dipl. Pädagogin, Schwerpunkt Sonder- und Heilpädagogik, Psychoanalytische Pädagogin, geschäftsführende Pädagogische Leitung des Vereins BeWo Darmstadt e. V., Veröffentlichungen zum psychodynamischen Verständnis von geistiger Behinderung und zu Begleiteter Elternschaft, Mitglied des AK Psychoanalyse und geistige Behinderung, Vorstandsmitglied des Frankfurter Arbeitskreises für Psychoanalytische Pädagogik e. V. (FAPP), des Darmstädter Forums für Psychoanalytische Heilpädagogik und Soziale Arbeit e. V. sowie der Landesarbeitsgemeinschaft freier Ambulanter Dienste in Hessen (LAGfAD).