Beschreibung

Foto: Eva Gugg
aus Heft 3/4/2021 – Denkanstöße
Reimer Gronemeyer

Die Schwachen zuerst

Die Schwachen zuerst, ist doppeldeutig: Sind die Schwachen die ersten Opfer in Krisen? Oder kommt alles darauf an, die Schwachen zuerst zu schützen, weil sich die Humanität und Überlebensfähigkeit einer Gesellschaft daran misst, wie sie mit ihren Schwachen umgeht?

Das Wesentliche immer im Blick

Jonathan ist 29 Jahre alt, er lebt in Baden-Württemberg. Bei ihm wurde im Alter von sieben Jahren das Asperger-Syndrom diagnostiziert.
Die Pandemie konfrontiert ihn mit Veränderungen in seinem Alltag. Das ist schwer für ihn. Dass er nicht in sein Lieblingscafé gehen kann, bedauert er. Der Aufenthalt dort ist für ihn wie ein Training: Er kann Menschen um sich herum beobachten. Er lernt dort etwas über soziale Verhaltensweisen, die ihm fremd sind. Die Masken erschweren seinen Alltag. Er muss mühsam lernen, Gesichtsausdrücke zu interpretieren. Greta Thunberg ist unkonventionell, mit starkem Rückgrat und sie hat immer das Wesentliche im Blick. Das hat etwas mit ihrem Autismus zu tun – das hat sie selbst gesagt. Autismus kann gegen die soziale Zauberei, die uns jedem Unsinn zustimmen lässt, immun machen. Das, was uns am Herzen liegt, wird dann deutlicher. Das Leiden, das mit Autismus verbunden ist, ist damit nicht geleugnet. Aber auf die Schwachen fällt plötzlich ein anderer Blick.

Die Schwachen wissen es

Die Schwachen sind nicht eine Randerscheinung, sondern das heimliche Zentrum einer Gesellschaft im radikalen Wandel. An ihnen können und müssen wir Maß nehmen für die Frage, wie es weitergehen soll. Sie wissen etwas, was die Starken, die Gesunden, die Planer, die Mächtigen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erst lernen müssen. Das ist revolutionär. Revolutionär ist ein zu heftiges Wort? Nun, ursprünglich bezeichnet revolutio in der Astronomie
den Umlauf der Himmelskörper. Versuchen wir es doch einmal mit dem Gedanken: Nicht die Schwachen sind es, die um uns kreisen und von uns beleuchtet werden. Vielleicht kreisen wir um die Schwachen und könnten uns von ihren Erfahrungen erhellen lassen? Nehmen wir Abstand von
der Zwangsvorstellung der Starken, dass die Schwachen unser ständiges Entwicklungsprojekt sind. Neigen wir uns einmal nicht gnädig zu den Schwachen herunter, sondern beugen die Knie vor den Erfahrungen, den Sensibilitäten, den Kränkungen und den Leiden der Schwachen. Kreisen wir versuchsweise revolutionär um die Schwachen und nicht umgekehrt. Die Schwachen im Zentrum zu denken, das ist mit dem Versuch verbunden, die ganze Geschichte
der Menschen umzudrehen und neu zu erzählen. Die Geschichte haben die Starken geschrieben. Der Jäger, der in der Tundra das Mammut mit der Lanze erlegt. Alexander der Große, der die Welt unterwirft, Otto Hahn, der die Kernspaltung entdeckt und die Kernchemie auf den Weg bringt …und immer
so weiter. Heldengeschichte reiht sich an Heldengeschichte. Die Schwachen haben im Unsichtbaren überlebt, sich am Rande versteckt, Überlebensmittel gefunden, Verfolgungen und Misshandlungen erlitten oder sind entkommen auf selbstgebahnten Pfaden in einer Welt, die sich gewohnheitsmäßig in Heldengeschichten spiegelt. Geschichte wird von den Starken gemacht, für die Geschichte der Schwachen gibt es kaum
Bilder und Begriffe. Eine Geschichte der Schwachen müsste zunächst einmal herausstellen, dass sie von den Worten, Bildern und Gleichnissen der Helden überkrustet ist. Unter den dunklen Wolken der Corona-Pandemie erleben wir, dass die Starken stärker und die Schwachen schwächer werden. Man muss den Bogen weit spannen: Er reicht von den vielen Alten, die im Corona- Lockdown von allem abgeschnitten sind (von ihren Kindern, den Zimmernachbarn, den Gemeinschaftsveranstaltungen) bis zu den „dinkers“, den Menschen, die – zum Beispiel in Swakopmund (Namibia) – auf Müllhalden nach Essbarem suchen, weil der Lockdown ihnen ihre Tagelöhnerjobs unmöglich gemacht hat.

Autor

Reimer Gronemeyer (2021):
Die Schwachen zuerst – Lektionen aus dem Lockdown
Claudius-Verlag, 18 Euro
ISBN 978-3-532-62862-1

„Die Schwachen können uns auf dem Weg in die konviviale Gesellschaft begleiten, vielleicht sogar leiten. Sie sind so etwas wie die Antimaterie zur
Leistungsgesellschaft, die uns gerade zugrunde richtet.“ Ein Buch voller Anregungen, wie es weitergehen soll.

Reimer Gronemeyer ist Publizist und emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Gießen.