Ein Vater trägt sein Kleinkind in Tragegurten an der Brust und schaut von einer Anhöhe auf Bäume und Berge. Foto: Fabian Sixtus Körner

Fabian Sixtus Körner und seine Tochter Yanti während einer Wanderung durch den thailändischen Dschungel.

Foto: Fabian Sixtus Körner
aus Heft 4/5/2019 – Anderswo
Jürgen Streihammer

„Ich brauche euer Mitleid nicht“

Fabian Sixtus Körner war ein Abenteurer. Jetzt ist er Vater einer Tochter mit Trisomie 21. Er hielt das für einen „Schicksalsschlag“. Ein Irrtum. Heute reisen sie gemeinsam um die Welt: Nichts wie weg aus dem verkrampften Deutschland!

Yanti hebt die Handflächen über den Kopf. Sie formt sie zu Löffelohren, sie macht den Hasen. Yanti ist zweidreiviertel Jahre alt. Sie hat blondes Haar, ein gewinnendes Lächeln und mandelförmige Augen. Yanti hat Trisomie 21. Papa Fabian Sixtus Körner hält sie im Arm. „Wir machen mit ihr GuK“, sagt er. GuK steht für gebärdenunterstützte Kommunikation. Deshalb auch der Hase. Die bildliche Sprache soll Kindern mit verzögerter Entwicklung helfen, sich mitzuteilen. 

Papa Körner, Jahrgang 1981, ist Designer, Fotograf, Filmemacher und vor allem Abenteurer. Vor einigen Jahren brach er mit 255 Euro zu einer Weltreise auf – fünf Kontinente, zwei Jahre, viele Jobs, etwa auf einem wackligen Baugerüst aus Bambus in Shanghai. Das Erlebte verdichtete er zum Bestseller „Journeyman“. Yantis Mama ist internationale Politikberaterin. Ein Bild in der gemeinsamen Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg zeigt sie am Strand mit Surfbrett in der Hand. Hier wohnen also zwei viel gereiste Elternteile, die notorisches Fernweh plagt, und hier wohnt Yanti, die Tochter mit Trisomie 21: Das ist die Ausgangslage, das neue Abenteuer. 

Gespräche auf Englisch

Als Yanti auf die Welt kam, genauer gesagt: als Körner zum ersten Mal Trisomie 21 bemerkte, brach für ihn eine Welt zusammen. „Ich dachte, das wäre ein Schicksalsschlag“, sagt er. Er wähnte sich „im falschen Film“. Das klingt sehr egoistisch, aber so sei das eben gewesen. Körner, Typ Surfer, fürchtete, er könnte nicht mehr reisen. Aber um die Welt bummeln, das geht auch mit Yanti. Und wie! Aber dazu später. 

Wenn es einen deutschen Ort gibt, am dem einer wie Körner gut aufgehoben scheint, dann wohl das Berliner Szeneviertel Kreuzberg. Auf den Straßen vor seiner Wohnung herrscht ein babylonisches Gewirr an Sprachen. Mütter aus dem linksliberalen Bürgertum schieben ihre Kinderwagen an Kebab-Ständen und arabischen Spätverkaufsstellen, den Spätis, vorbei. Ums Eck ist der Görlitzer Park. Es gibt dort Kinderspielplätze, einen Sportplatz, und Drogendealer gibt es auch. Doch Körner mag den Ort. Er ist dort oft mit Yanti. Aber mit dem Land, das diesen Park umgibt, fremdelt er. 

Körner spricht mit Yanti deshalb nicht nur in Gebärdensprache, sondern auch auf Englisch. „Wir wissen ja nicht, ob wir in Deutschland bleiben“, sagt er. Es gebe hier eben diese „Kühle“. Er meint nicht nur das Wetter, sondern „diesen respektvollen Umgang, der sich in einer gewissen Gleichgültigkeit ausdrückt“. Und zwar im Umgang mit Yanti, mit Menschen mit Behinderungen allgemein, mit Obdachlosen. Der Deutsche spende zwar gern, aber meide den Kontakt mit den Menschen, für die er spendet. So sieht das jedenfalls Körner: „Und das hat viel damit zu tun, dass die Selbstverwirklichung in Deutschland ganz großgeschrieben wird. Es geht um Erfolg und Karriere. Wer da nicht genauso mitkann, wird bemitleidet. Und das grenzt aus.“ 

„Una niña especial“

Körner hat deshalb Zweifel, dass Berlin für Yanti der richtige Ort ist, spätestens seit der ersten gemeinsamen Reise in die Dominikanische Republik. Vier Monate war Yanti alt. „Da habe ich bemerkt, dass sie in anderen Kulturen anders behandelt wird.“ Anders heißt: besser. „Fremde Menschen kamen auf uns zu und fragten, ob sie Yanti einmal halten dürfen.“ „Sie ist ein spezielles Mädchen, richtig?“, meinte ein Mann – „una niña especial“. Für Körner war das „die schönste Formulierung, mit der Trisomie bisher in meiner Gegenwart benannt wurde“. Er schildert die Episode in seinem neuen Buch: „Mit anderen Augen“. Sie, Yanti, gibt ihm Kraft, genauso wie die Begegnungen in Thailand, auf Bali, auf den Philippinen. 

Überall staunte er über die Herzenswärme und Kinderliebe, überall machte Yanti „Entwicklungssprünge“. „Je näher du dem Äquator kommst, desto offener und unvoreingenommener gehen die Menschen auf Yanti zu. Das war bisher so.“ Die Reisen bestärken ihn, Yanti zurück in Deutschland offensiver in die Öffentlichkeit zu bringen. „Ich wollte allen zeigen: Ich brauche euer Mitleid nicht! Es gibt dafür keinen Grund.“ 

Lieber mit Humor

Denn nach Yantis Geburt gab es für den Jungvater vor allem Mitleid – und dröhnendes Schweigen. Gute Bekannte meldeten sich nicht. Körner versteht das heute, weh tat es trotzdem. Irgendwann verschickte er eine Geburtskarte, die Yanti in Superheldenpose zeigte. Die Karte schreit: Freut euch mit uns! Das war der Eisbrecher. Das nahm den Bekannten „die Scham“, wie er sagt. Und seither nennt sich Körner einen „Aktivisten“; seither spricht er die Trisomie offen an, wenn jemand fragt, warum Yanti irgendwie jünger wirkt, als ihr Alter erwarten lässt. 

Körner ist also „Aktivist“. Aber anders. Die deutschen Werbekampagnen für Menschen mit Trisomie 21 nennt Körner – Sohn eines Salzburgers – „fad“. Sie sind ihm oft zu „glatt“. Sie zeigten Menschen wie Yanti als hilflose Dauerlächler. Sie sollen gefallen. Dabei dürfe seine Tochter später ruhig mal „anecken“. Humor ist in den Kampagnen gleichfalls ein Tabu. Keine Witze bitte! Das ist vielleicht die subtilste Form der Ausgrenzung, dass man über Fauxpas von Menschen mit Trisomie 21 nicht lachen darf. 

„Ich will auf der Welt bleiben“

Körners Botschaft lautet deshalb auch, man solle sich ruhig einmal ein bisschen entkrampfen, Fragen stellen, gern auch vermeintlich blöde. Manches alte Missverständnis würde sich klären, zum Beispiel jenes, wonach Menschen mit Trisomie 21 zu einem Leben in Unselbstständigkeit verdammt und „unwirtschaftlich“ seien, wie das Fabian Sixtus Körner in Internetforen schon lesen musste. 

Die Geschichte einer ausgebildeten Pflegerin mit Trisomie 21 lässt ihn nicht los. Die Frau habe für Patienten nur ein paar Minuten länger gebraucht als vorgegeben. Jetzt darf sie gar nicht arbeiten. Körner hält das für groben Unfug. „Wieso sagt man nicht: Betreue dann halt ein paar Menschen weniger, und wir kürzen das Gehalt entsprechend.“ Die gelernte Pflegerin wurde Schauspielerin, andere verschwinden aus dem gewöhnlichen Berufsalltag in geförderte Werkstätten. 

Yanti wälzt sich jetzt auf der Couch und wendet einem den Rücken zu. Es ist eine Mischung aus kindlicher Schüchternheit und Desinteresse. Sie wirkt dabei prächtig gelaunt. Man denkt kurz an die Stelle in Körners Buch, in der es um Island geht. Auf der Insel werden nahezu 100 Prozent aller Schwangerschaften bei Verdacht auf Trisomie 21 abgebrochen. Menschen mit Trisomie, wie Yanti, gibt es dort bald nicht mehr. 

Und man denkt an eine Szene des vergangenen deutschen Bundestagswahlkampfs. Damals, im Herbst 2017, gab es einen Gänsehautmoment, als sich bei einer Publikumsdiskussion Natalie Dedreux an Kanzlerin Angela Merkel wandte. Dedreux hat Trisomie 21. „Ich will nicht abgetrieben werden, sondern auf der Welt bleiben“, sagte sie – stellvertretend für künftige Generationen. 

Ein pränatale Trisomie-Diagnose erlaubt Schwangerschaftsabbrüche noch nach der zwölften Woche. Meistens erfolgt die Diagnose über eine Fruchtwasseruntersuchung. Künftig könnte in Deutschland auch ein risikoärmerer Bluttest zur Kassenleistung werden. „Noch im Krankenhaus, bevor das wehenfördernde Mittel Wirkung zeigte, hätten sie Yanti eine Giftspritze verabreichen können“, erklärt Körner. Vorausgesetzt, seine Frau hätte das gewollt und durch einen Test von der Trisomie gewusst. Sie wusste es nicht. Eine Nackenfaltenmessung verlief unauffällig. Sie hätte aber auch nicht abgetrieben. Darüber haben sie geredet. 

U-Bahn-Fahren mit Yanti

Ausschlaggebend bei einer Abtreibung ist das psychische Wohl der Mutter. Körner versteht das. Er drängt aber darauf, in die Beratungsgespräche Menschen mit Trisomie 21 und deren Angehörige einzubinden, nicht nur Ärzte. 

Würde man Körner fragen, er würde dann gewiss auch von den Vorzügen erzählen, zum Beispiel, dass Yanti vergleichsweise wenig weine und viel lache und sozialer sei als andere Kinder: „Wenn Yanti und ich mit der U-Bahn fahren, dann sucht sie sich immer garantiert jenen Fahrgast aus, der am wenigsten so aussieht, als wollte er Kontakt haben. Sie lächelt ihn dann so lang an, bis sie ihm zumindest ein verkrampftes Schmunzeln entlockt hat.“ Körner würde auch eine US-Statistik zitieren, wonach 99 Prozent der Menschen mit Trisomie von sich selbst sagen, sie seien glücklich. Vermutlich würde er auch erklären, dass der Druck für Eltern geringer sei, weil es eben auch die Erwartungshaltung an ihr Kind ist. 

Demnächst will die Jungfamilie mit dem Campingbus in die Niederlande fahren. Danach geht es nach Südamerika, genauer im Winter, wenn es in Deutschland „kühler“ wird – im doppelten Sinn. Und wer weiß, vielleicht bleiben sie irgendwann fort. Die drei Weltenbummler. 

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Wiedergabe eines Beitrags, der unter diesem Titel am 9. Juni 2019 in der Tageszeitung „Die Presse“ erschienen ist.